DANIEL FOPPA

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«Mein Rausch ist die Freiheit»

Der Häftling Brian soll wegen Rückfallgefahr nicht freikommen. Auch bei Hugo Portmann hatte die Justiz solche Bedenken – zu Unrecht. Der Ex-Gefangene erzählt, wie ihm der Start in ein freies Leben gelang.
NZZ am Sonntag, 6. November 2022

Daniel Foppa

Der Tag meiner Entlassung verlief unspektakulär. Ich war schon zwei Monate im offenen Vollzug im Haus Lägern in Regensdorf. Als man mich gehenliess, musste ich ein paar Dokumente unterschreiben, erhielt meine persönlichen Sachen zurück, und das war’s. Nach 35 Jahren schloss sich die Gefängnistüre hinter mir. Abgeholt hat mich niemand. Ich fuhr mit der Bahn zu meiner neuen Wohnung in Zürich Seebach. Mein Glück war, dass mir mein Anwalt noch während der Haftzeit bei der Wohnungs- und Arbeitssuche geholfen hatte. Ich stand also nicht auf der Strasse. Und ich konnte die Wohnung vor meiner Entlassung während zweier bewilligter Urlaube mit Occasionsmöbeln einrichten.

Mein Kompass in die Freiheit war mein Anwalt. Am Entlassungstag lud er mich zum Nachtessen ein, so lernte ich seine Familie kennen. Das sind gute Freunde geworden, die mir helfen, etwa bei den Steuern oder der Krankenkasse. Eine Arbeitsstelle zu finden, war kein grosses Problem. Der Ex-Häftling Ernst Deubelbeiss, der nach der Entlassung bei der Kehrichtverbrennung arbeitete, hatte mir geraten, Müllmann zu werden. Das wollte ich, und ziemlich bald gab es vier Jobangebote. Ich entschied mich für die Stadt Zürich, wo mir Stadtrat Filippo Leutenegger eine Stelle offerierte. Zunächst waren die Kollegen etwas zurückhaltend, sie wussten ja aus den Medien, wer ich war. Und dann wird dieser Typ auch noch vom obersten Chef eingestellt. Aber seit meine Kollegen mich kennen, haben wir ein sehr gutes Verhältnis untereinander.

Eine komplett veränderte Welt

Ich bin gerne Müllmann. Wir sind draussen und erledigen eine Arbeit, die erledigt werden muss. Zwar regen sich die Leute auf, wenn ein Müllwagen den Weg versperrt. Aber jeder will seinen Kübel geleert haben. Hie und da wird jemand aggressiv, wenn er ein paar Minuten warten muss. Einer wollte mal auf den Chauffeur los. Er brüllte: «Komm raus, du Feigling!» Doch der Fahrer blieb in seiner Kabine, schloss die Türe ab. Ich ging nach vorne und sagte dem Mann, er solle doch den Chauffeur in Ruhe lassen. Da fragte er mich nach meinem Namen. Als ich «Portmann» sagte, rief er erstaunt: «Sie sind das!», und ging weg. Der Chauffeur liess die Scheibe runter und fragte: «Hugo, was hast du ihm gesagt?» «Nur meinen Namen», antwortete ich. Aber das war eine Ausnahme, wir kriegen viele positive Reaktionen.

Von den Behörden hat mir niemand geholfen, mich draussen zurechtzufinden. Das habe ich auch nicht erwartet. Ich hatte ein paar Auflagen, durfte etwa während der ersten drei Jahre kein Waffengeschäft betreten. Und ich musste mich einmal im Monat bei meinem Bewährungshelfer melden. Das war ein anständiger Mensch, wir gingen jeweils essen. Aber eigentlich war es eine grosse Niederlage für die Strafbehörden, dass ich mich gut zurechtfand und nicht rückfällig wurde. In einem Gutachten haben sie mir eine schlechte Prognose gestellt und vor einer hohen Rückfallgefahr gewarnt. Doch es half nichts, sie mussten mich rauslassen. Ich weiss, dass ich in der Vergangenheit falsch gehandelt habe. Ich habe Menschen zwar nicht körperlich geschädigt, aber sie mussten psychisch leiden. Das tut mir leid, und dafür schäme ich mich. Ich kann die Taten nicht rückgängig machen. Aber ich habe dafür gebüsst.

Die Welt hat sich in dieser Zeit komplett verändert. Ich glaube, die Menschen haben viel von ihrer Freiheit verloren – ohne es zu merken. Wenn man so lange im Gefängnis ist, weiss man, dass die Freiheit das Wichtigste ist. Heute sind die Menschen aber Gefangene ihres Handys und von immer neuen Vorschriften. Vor meiner Gefängniszeit hat man sich sogar in Zürich auf der Strasse noch hie und da gegrüsst oder die anderen Menschen wahrgenommen. Heute ist jeder ein Getriebener und starrt auf sein Handy.

Viele fragen, wie ich es geschafft habe, mich in dieser neuen Welt zurechtzufinden und nicht rückfällig zu werden. Das ging nur, weil ich meinen Rucksack in der Strafanstalt Pöschwies zurückgelassen habe: Ich habe alle Kontakte von früher abgebrochen, nur mit ganz wenigen alten Freunden treffe ich mich noch hie und da. Vom Milieu halte ich mich fern. In den Kreis 4 gehe ich nur, wenn der Müllwagen dorthin fährt. Es gab Jobangebote, die ich abgelehnt habe. So hat man mir vorgeschlagen, in der Freizeit als Türsteher oder Rausschmeisser in einer Bar zu arbeiten. Nur ein wenig für die Sicherheit sorgen, haben sie gesagt. Ich habe abgelehnt, denn ich weiss, wie das läuft. Da kann man immer tiefer in etwas reinrutschen.

Im Gefängnis hatte ich jahrelang Zeit, die Milieuleute zu studieren. Betrüger, Drogenhändler und Zuhälter sind hervorragende Manipulatoren und Schauspieler. Sie seifen dich ein und wollen dich dann über den Tisch ziehen. Um die musst du einen Bogen machen. Wenn man rauskommt, braucht es darum einen klaren Schnitt: Man muss an einen neuen Ort ziehen, nicht mehr in die alten Beizen gehen, neue Freunde suchen. Einen kompletten «Restart».

Das würde ich auch Brian raten. Ich kenne ihn zwar nicht. Aber wenn er rauskommt, gibt’s nur eins: Vergiss die alten Kontakte, beginne ein neues Leben. Das ist die Grundfrage: Wie gross ist der Rucksack, den er aus dem Gefängnis mitnimmt? Kann er alles zurücklassen? Ich hoffe es für ihn. Und ich hoffe, dass Brian einen Ausgleich findet. Viel Sport sollte er treiben. Kampfsport geht aber nur, wenn man seine Emotionen im Griff hat, Ausdauersport geht immer. Sport und Lesen haben mich im Gefängnis am Leben gehalten. Auch heute ist Sport für den seelischen Ausgleich sehr wichtig. Und eine gesunde Ernährung. Ich trinke praktisch keinen Alkohol, mein Rausch ist die Freiheit.

Man vergisst euch, ihr verliert alles

Mein Tagesablauf ist sehr strukturiert. Das war er im Gefängnis zwar auch. Aber dort war er monoton, das ist jetzt anders. Ich stehe um drei Uhr auf und frühstücke. Danach treibe ich eineinhalb Stunden Sport, bevor um halb sieben meine Schicht beginnt. Am Wochenende fahre ich sehr oft Velo, immer wieder um den Zürichsee. Gerne fahre ich diese 83 Kilometer mit einem alten Militärvelo.

Manchmal werde ich eingeladen, vor straffälligen Jugendlichen zu sprechen. Ich versuche dann, ihre Ganovenehre zu zerstören und sage ihnen: Werdet Gentlemen, Ganoven landen im Loch. Dort habt ihr keine Freunde, man vergisst euch, ihr verliert alles. Denn als Ganoven habt ihr nur Freunde, solange ihr Geld habt. Ich frage sie, wie viele Freunde ihnen etwas ins Gefängnis geschickt haben. Die Antwort ist jeweils: Keiner. Die Jungen haben mich natürlich gegoogelt; sie wissen bestens über mich Bescheid und hören mir aufmerksam zu. Was diese Vorträge bringen, weiss ich nicht. Aber wenn sie nur bei einem dazu führen, dass er vernünftiger wird, hat es sich gelohnt. Meine Geschichte soll ihnen die Augen öffnen. Und dem Strafvollzug neue Nahrung wegnehmen.

35 Jahre im Gefängnis

Hugo Portmann sass mehr als die Hälfte seines Lebens im Gefängnis. Der heute 62-Jährige hatte Banken überfallen und Geiseln genommen. Hinter Gitter kämpfte er erfolgreich gegen Missstände im Strafvollzug. Seit 2018 lebt Portmann in Freiheit. Sein Fall gilt als gelungenes Beispiel für die Reintegration eines Langzeitgefangenen.

Brian

Brian soll weiter im Gefängnis bleiben

Er ist der berühmteste Häftling der Schweiz, und er muss wohl weiterhin hinter Gittern bleiben: Der 27-jährige Brian, früher bekannt als «Carlos». Eigentlich wollte das Zürcher Obergericht Brian am Montag entlassen. Doch dann beantragte die Staatsanwaltschaft Untersuchungshaft für Brian wegen 33 Delikten, die er im Gefängnis begangen haben soll. Das Zwangsmassnahmengericht wird nun über den Antrag entscheiden. Brian sitzt seit über fünf Jahren hinter Gittern. Ursprünglich sass er wegen versuchter schwerer Körperverletzung und Drohung. Danach wurde Sicherheitshaft angeordnet, weil er Aufseher angegriffen haben soll.

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