DANIEL FOPPA

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Zeit für eine Zäsur

Verhältnis zur EU, Altersvorsorge, Energiewende: Zum Auftakt des Wahlkampfs zeigt sich der grosse Reformbedarf in der Schweizer Politik. Gefragt sind deshalb Gestaltungswille und Augenmass. Parteidogmatiker sollten abtreten.
Tages-Anzeiger, 15. August 2015

Von Daniel Foppa

Bundesrat und Parlament haben sich diese Woche aus der Sommerpause zurückgemeldet. Und die politischen Gewichte wieder zurechtgerückt: Die Landesregierung wählte Jacques de Watteville zum Chefunterhändler für EU-Angelegenheiten, die Energie­kommission des Ständerats will keine Laufzeitbegrenzung für AKW, und die Sozialkommission der kleinen Kammer berät in Dauersitzungen die Alters­vorsorge 2020. Damit stehen nach der Flüchtlingsdebatte wieder jene Bereiche im Fokus, die für die Zukunft des Landes entscheidend sind. Die drei Themen haben etwas gemeinsam: Der Reformbedarf ist gross. Und die Zeitdrängt.

In den nächsten Monaten geht es darum, das Verhältnis zur EU zu klären, die künftige Energieversorgung zu gestalten und die Altersvorsorge dem demografischen Wandel anzupassen. Dies alles vor dem Hintergrund des überbewerteten Frankens mit seinen Folgen für die Privatwirtschaft und die öffentlichen Finanzen. Selten waren die politischen Akteure in der jüngeren Geschichte der Schweiz so gefordert. War es während der Hochkonjunktur noch möglich, Probleme auszusitzen, geht dies angesichts des wirtschaft­lichen Drucks, der globalen Vernetzung und der Alterung der Gesellschaft nicht mehr. Die Rückzugsgefechte beim Bankgeheimnis haben gezeigt: Ist die Schweiz nicht fähig, sich aus eigenem Antrieb zu reformieren, werden Reformen von aussen aufgezwungen.

Zentrifugale Kräfte

Mitten in diese Zeit fallen die eidgenössischen Wahlen vom 18. Oktober. Mit Blick auf die Herausforderungen kann man sich nur die Wahl von möglichst vielen reformwilligen Kandidaten wünschen. Leicht zu erfüllen ist dieser Wunsch allerdings nicht.

Die Schweiz hat das am stärksten polarisierte Parteiensystem Europas. Kaum eineandere sozialdemokratische Partei steht so links wie die SP, keine andere nationalkonservative Partei spielt eine derart dominierende Rolle wie die SVP. Die regelmässig mit Initiativen scheiternde SP hat sich zunehmend von einer gestaltenden zu einer bremsenden Kraft gewandelt, die mit Maximalforderungen und Referenden Reformen gefährdet. Auch ihre bisherigen Äusserungen zur Altersvorsorge zeugen davon – obwohl ohne Gegenmassnahmen die Finanzierungslücke der AHV um 2030 rund 8,9 Milliarden Franken pro Jahr betragen wird. Die SVP ihrerseits hat dem Land mit der Zuwanderungsinitiative ein wirtschaftspolitisches Vabanquespiel eingebrockt und stellt sich mit Rücksicht auf ihre Klientel gegen jede noch so vernünftige Reform bei der Armee und der Landwirtschaft. Auch hier nach dem Motto «Koste es, was es wolle». Kommt hinzu, dass in beiden Parteien Kräfte ton­angebend sind, die noch weiter zu den politischen Rändern drängen.

Polarisierung ist kein neues Phänomen in der Schweizer Politik. Aber ihre Auswirkungen werden immer spürbarer. Ein Parlament, das sich im parteipolitischen Taktieren verliert, ist mit globalen Trends überfordert – sei es bei der Wettbewerbsfähigkeit, der Energieversorgung oder der Migration. Darum ist die Zeitfür eine Zäsur gekommen.

Dem Sturm nicht gewachsen

Im Idealfall wird 2014 in die Geschichtsbücher eingehen als Höhepunkt und Abschluss einer Phase radikaler Initiativen, als mit der Zuwanderungs- und der Pädophilen­initiative erstmals zwei Volksbegehren in einem Jahr angenommen wurden. 2015 wäre dann das Jahr zunehmenden Räsonnements. Das Jahr, in dem sich die Schweiz wieder auf Tugenden wie Gestaltungswille und Augenmass besinnt – und sein Parlament entsprechend bestellt. Nicht, weil uns von Natur aus der Wille nach eingemitteten und kompromissbereiten Pragmatikern steht. Nicht, weil die 2011 entstandene neue Mitte in dieser Legislatur wirklich überzeugt hätte. Sondern weil die Lage zu ernst ist für Klamaukpolitiker, Selbstdarsteller und Dogmatiker. Sie dürfen getrost von der politischen Bühne abtreten.

Sinkt die Zahl der politischen Scharfmacher in Bern, steigt auch die Chance, dass die nötigen Reformen am Schluss nicht in einer Volksabstimmung scheitern. Die Wahlen in zwei Monaten bieten die Möglichkeit zur Kurskorrektur. An uns ist es, Volksvertreter zu wählen, die sich zur überparteilichen Lösungssuche bekennen. Und ihr Handeln nicht primär der Logik der eigenen Partei unterordnen. Denn ein Land, das vor sich hin dümpelt, ist dem Sturm nicht gewachsen.

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