DANIEL FOPPA

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«Wir müssen die Erhöhung des Rentenalters ins Auge fassen»

Für die frühere Bundesrätin Eveline Widmer-Schlumpf sind einschneidende Reformen bei den Renten unerlässlich. Die Präsidentin von Pro Senectute sagt auch, die heutigen Rentner erhielten zu hohe Leistungen aus den Pensionskassen.
Tages-Anzeiger, 2. Juli 2019

Mit Eveline Widmer-Schlumpf sprach Daniel Foppa

Für eine Ex-Finanzministerin müssten diese Zahlen der Horror sein: 2018 betrug das Defizit zwischen Einnahmen und Ausgaben bei der AHV über 1 Milliarde Franken.

Diese Zahlen und vor allem die Prognosen für die nächsten Jahre zeigen, dass bei der Altersvorsorge keine Politik für die Zukunft betrieben wird. Man ist schon froh, wenn man eine Verschnaufpause für drei, vier Jahre hinbekommt, wie es dank der Annahme des AHV-Steuer-Deals nun der Fall ist. Wir brauchen dringend Lösungen, die einen Zeithorizont von zehn oder mehr Jahren anvisieren.

Warum engagieren Sie sich als Pro-Senectute-Präsidentin so stark für die Zukunft der Altersvorsorge? Betrifft diese nicht primär die jüngere Generation?

Ohne Reformen wird es künftig mehr armutsgefährdete Rentnerinnen und Rentner geben – weil das System nicht mehr finanzierbar sein wird. Das würde dazu führen, dass immer weniger Leute von ihrer Rente leben können und sich Zusatzjobs suchen müssen. Damit fehlen diese Leute bei der Freiwilligenarbeit, denn diese wird heute zum grössten Teil von Personen zwischen 65 und 74 Jahren geleistet. Fällt aber diese wichtige Ressource weg, tun sich neue zusätzliche Probleme auf – zum Beispiel auch bei der Betreuung der Betagten.

Es ist bald 25 Jahre her, seit 1995 mit der 10. AHV-Revision die letzte Reform des Rentensystems gelang. Ist dieses unreformierbar?

Das System ist reformierbar, aber zunächst muss ein grosser Verdrängungsmechanismus überwunden werden. Man spricht nicht gerne übers Altern oder mögliche Probleme im Alter. Politikerinnen und Politiker denken zudem kaum über eine Legislatur hinaus. Und während einer Legislatur ist man im ersten Jahr stark mit den Folgen der Wahlen beschäftigt, und im vierten Jahr führt man Wahlkampf. Es bleiben also zwei Jahre für effektive Reformarbeit.

Wie soll man denn vorgehen? Nach dem Nein zur Rentenreform 2017 erscheinen Kompromisslösungen ebenso wenig mehrheitsfähig wie Sparen alleine.

Wir müssen die Erhöhung des Rentenalters ins Auge fassen, das Rentenalter darf keine heilige Kuh mehr sein. Zudem sollten wir diese Diskussion mit mehr Gelassenheit führen als bisher. Als die AHV 1948 eingeführt wurde, galt Rentenalter 65 für Mann und Frau. Die durchschnittliche Lebensdauer der Generation mit Geburtsjahr 1917 betrug damals bei Männern 63 Jahre, bei Frauen 70 Jahre. Die Männer und Frauen mit Geburtsjahr 2017 werden nach Berechnungen des Bundes nach ihrem 65. Geburtstag vermutlich durchschnittlich noch 28 Jahre beziehungsweise 30 Jahre leben. Trotzdem tut sich die Politik so schwer damit, über eine Flexibilisierung des AHV-Alters zu sprechen.

Wie stark müsste denn das Rentenalter erhöht werden?

Wir legen uns nicht auf ein Referenzalter fest. Ob man es bei 66 oder 67 Jahren festsetzt: Wichtig ist, dass mehr Flexibilisierungsmöglichkeiten geschaffen werden. Ein Bauarbeiter beispielsweise kann nicht gleich lange arbeiten wie eine Anwältin.

Und wie gerechtfertigt ist ein unterschiedliches Rentenalter für Frau und Mann noch?

Das berechtigte Anliegen der Lohngleichheit zwischen Frau und Mann sollte nicht dazu genutzt werden, um auf einem unterschiedlichen Rentenalter zu beharren. Man kann die teils unerklärbaren Lohnunterschiede nicht zum Anlass nehmen, um etwas zu bekämpfen, das aus Sicht der Altersvorsorge richtig ist.

Täuscht der Eindruck, oder steigt die Akzeptanz für ein höheres Rentenalter? Als FDP-Bundesrat Pascal Couchepin 2003 Rentenalter 67 vorschlug, wurde seine Partei bei den Wahlen abgestraft.

Die Diskussion ist heute offener. Man hört jetzt eher auf Argumente. Das ist vor allem auch ein Verdienst der Jungen. Ich bin sehr froh, dass sich die junge Generation zunehmend in die Rentendebatte einbringt. Das hat in den letzten 20 Jahren gefehlt. Denn den Jungen geschieht heute Unrecht: In der zweiten Säule werden zum Beispiel pro Jahr rund 8 Milliarden Franken von der jüngeren zur älteren Generation umgelagert – obwohl das systemwidrig ist und jede Person für sich sparen sollte.

Sie loben das Engagement der Jungen. Dann könnte sich Pro Senectute für die Initiative der Jungfreisinnigen einsetzen. Diese will das Rentenalter für Mann und Frau auf 66 Jahre erhöhen und danach an die Lebenserwartung koppeln.

Pro Senectute unterstützt als Organisation in der Regel keine Initiativen. Zudem ist es zu starr, das Rentenalter nur an die durchschnittliche Lebenserwartung zu koppeln. Aber die Tatsache, dass man über eine Anpassung des Referenzalters spricht, ist gut.

Was halten Sie vom Vorschlag, vermögenden Rentnerinnen und Rentnern die AHV zu kürzen?

Das widerspricht dem System der AHV. Die hohen Einkommensklassen zahlen enorm viel in die AHV ein. Wieso sollten sie weiterhin einbezahlen, wenn sie am Schluss nichts erhalten? Wir dürfen den Solidaritätsgedanken, auf dem die AHV basiert, nicht gefährden.

Voraussichtlich morgen präsentiert der Bundesrat eine Reform, die Rentenalter 65 für Frauen und eine Erhöhung der Mehrwertsteuer beinhaltet. Was sagen Sie dazu?

Pro Senectute unterstützt die Reform. Sie betrifft zwar nur die AHV, doch mehr wäre im Moment politisch nicht realistisch: Die Idee, die AHV und die zweite Säule in einem Paket zu reformieren, ist an der Urne gescheitert. Wir betonen aber auch, dass diese Vorlage nicht ausreicht. Im Minimum sollte der Bundesrat erklären, was er bei den Pensionskassen zu tun gedenkt, auch wenn er die entsprechende Reform nicht gleichzeitig vorlegt.

Und was ist bei den Pensionskassen zu tun?

Heutige Rentnerinnen und Rentner erhalten, gemessen an ihren Beiträgen, zu hohe Leistungen aus den Pensionskassen. Auch wenn es unpopulär ist, muss die Diskussion über eine Senkung des Umwandlungssatzes geführt werden.

Womit wir wieder bei der «Rentenklau»-Debatte wären.

Man muss die beiden Säulen als Ganzes sehen: AHV und die zweite Säule zusammen sollten es ermöglichen, dass Rentnerinnen und Rentner den früher gewohnten Lebensstandard in etwa halten können. Setzt man an einem Ort an, muss man am anderen Ort kompensieren. Überlegen könnte man sich auch, dass bei den Pensionskassen im überobligatorischen Bereich ein Teil des Kapitals gesichert ist, und ein anderer Teil wäre «flexibel»: Dieser würde bei einem guten Anlageergebnis ausbezahlt, bei einem schlechten nicht.

Als Angestellter wäre ich dann weiterhin verpflichtet, Beiträge in die zweite Säule zu bezahlen – obwohl ich nicht weiss, ob ich es je wieder sehe.

Natürlich würde das zu Diskussionen führen. Entscheidend wäre insbesondere, wie gross der flexible und wie gross der feste Teil wäre. Aber solche Überlegungen muss man anstellen, wenn man die zweite Säule strukturell reformieren will.

Für Diskussionen sorgt auch der Frauenstreik und seine Folgen. Was sagen Sie zur Debatte?

Ich habe mich schon früh in verschiedenen Organisationen sehr stark für Gleichstellung und Frauenrechte eingesetzt. In den letzten Jahren hatte ich aber den Eindruck, dass die jüngere Frauengeneration nicht mehr so explizit war. Was ich schade fand. Dabei ist es so: Wenn man nicht immer wieder gegen Ungleichheiten ankämpft, dreht sich das Rad wieder zurück.

Haben Sie Beispiele dafür?

Bis vor ein paar Jahren war es völlig normal, dass in jeder Kantonsregierung mindestens eine Frau sitzt. Und nun gibt es plötzlich vier kantonale Regierungen ohne Frau. Auch die Anzahl kantonaler Parlamentarierinnen ist in den Nullerjahren zurückgegangen. Deshalb muss man die Diskussion über eine angemessene Frauenvertretung in Politik und Wirtschaft permanent führen. Und Anlässe wie der Frauenstreik helfen dabei natürlich.

Heute wird der Ruf nach Vorschriften für Geschlechterparität laut. Sie selber sind immer wieder als erste Frau überhaupt in politische Gremien gewählt worden – ganz ohne staatliche Fördermassnahmen.

Ich konnte von meinem familiären Umfeld profitieren: Meine Mutter und mein Mann unterstützten mich stark bei der Betreuung unserer drei Kinder, nur so war meine Karriere möglich. Diese Voraussetzungen haben längst nicht alle Frauen. Deshalb braucht es Massnahmen wie familienergänzende Tagesstrukturen. Und ich begrüsse es auch, dass sich das Parlament für minimale Vorgaben beim Frauenanteil in den Chefetagen börsenkotierter Firmen ausgesprochen hat.

Eveline Widmer-Schlumpf
BDP-Politikerin Eveline Widmer-Schlumpf war von 2008 bis 2015 Bundesrätin. Bei ihrer Wahl gehörte sie noch der SVP an und verdrängte als wilde Kandidatin Christoph Blocher aus der Regierung. Widmer-Schlumpf war zuerst Justiz-, danach Finanzministerin. Auch nach ihrem Rücktritt äussert sie sich zu politischen Themen. Für Aufsehen sorgte ihre Kritik an der Unternehmenssteuerreform III – die in der Folge an der Urne scheiterte. Heute Abend tritt die Präsidentin von Pro Senectute im «Club» von SRF auf. Die Sendung «Alter – Freude oder Frust?» befasst sich mit der Frage, wie der letzte Lebensabschnitt erfüllend gestaltet werden kann. (daf)

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