DANIEL FOPPA

Maillards Powerplay

Wenn ein Scheinriese pokert

Gewerkschaftspräsident Pierre-Yves Maillard wettert gegen die Europapolitik des Bundesrats. Doch sein Kurs ist weder bei den Arbeitnehmern noch in der SP breit abgestützt – im Gegenteil.
NZZ am Sonntag, 14. Januar 2024

Daniel Foppa

Der Applaus wird ihm sicher sein. Kommenden Freitag tritt Pierre Yves-Maillard an der traditionellen Albisgütli-Tagung der Zürcher SVP auf. Zwar trennen den Präsidenten des Schweizerischen Gewerkschaftsbunds (SGB) und die SVP-Basis in der Regel Welten. Doch spätestens seit Maillard vor einer Woche in der «NZZ am Sonntag» die Vorschläge des Bundesrats für ein neues EU-Rahmenabkommen in der Luft zerrissen hat, gilt er vielen Europaskeptikern als Verbündeter. Maillards Ansage war klar: «Niemand soll sich Illusionen machen. Wenn der Text so bleibt, werden ihn die Gewerkschaften niemals unterstützen.» Er wirft den Arbeitgebern und dem Bundesrat vor, die Verhandlungen mit der EU für ein Liberalisierungsprogramm zu missbrauchen.

Die Worte des SP-Ständerats haben Gewicht, weil den Gewerkschaften bei den ­EU-Verhandlungen eine Vetomacht zugesprochen wird: Die SVP ist ohnehin gegen jede Annäherung an Europa – stellen sich auch die Gewerkschaften dagegen, drohen die Verhandlungen zwischen den Fronten zerrieben zu werden.

Aber worauf gründet die gewichtige Position der Gewerkschaften eigentlich? Bloss an den Mitgliederzahlen kann es nicht liegen, denn der Rückhalt bei den Arbeitnehmern schwindet kontinuierlich. Mitte der achtziger Jahre waren noch über 30 Prozent der Beschäftigten gewerkschaftlich organisiert, inzwischen ist dieser Anteil auf rund 15 Prozent gesunken. Allein zwischen 2015 und 2022 verminderten sich die Mitgliederzahlen um über 76 000 Personen auf noch 661 000, Tendenz weiter sinkend.

Die schweigende Mehrheit

Kommt hinzu, dass von diesen Beschäftigten rund 211 000 Personen Angestelltenver­bänden angehören, die nicht in den beiden grossen Dachverbänden SGB und Travail Suisse zusammengeschlossen sind (siehe ­Grafik). Und trotzdem geben diese beiden Dachverbände in der politischen Diskussion den Ton an. Das stösst anderen Arbeitnehmerverbänden sauer auf. «Wer spricht eigentlich für die über 80 Prozent der Angestellten, die nicht gewerkschaftlich organisiert sind?», fragt Stefan Studer, Geschäftsführer von ­Angestellte Schweiz. Er kritisiert Maillards Kampfansage: «Wir brauchen Rechtssicherheit mit der EU und müssen kompromissbereit sein. Das setzt eine gewisse Diskussionskultur und andere Töne voraus, als sie jetzt Maillard anschlägt.»

Angestellte Schweiz hat zusammen mit dem Kaufmännischen Verband (KV) und der Schweizer Kader-Organisation die «Plattform für Angestelltenpolitik» gegründet. Die Vereinigung vertritt 90 000 Angestellte und will deren Interessen ohne klassenkämpferische Rhetorik wahren. Dass bei Verhandlungen auf nationaler Ebene aber fast nur die beiden grossen Gewerkschaftsdachverbände vertreten sind, hat auch KV-Schweiz-Präsident Daniel Jositsch in einer Interpellation moniert. «Die beiden Dachverbände repräsentieren ­traditionellerweise eine andere Arbeitnehmerpopulation als die unabhängigen Arbeit­nehmerverbände», schreibt der SP-Ständerat. Der Bundesrat antwortete bloss ausweichend auf den Vorstoss.

Trotz bröckelnder Basis sind die grossen Gewerkschaften noch immer eine politische Macht. Das zeigt sich auch daran, wie stark Bundesbern ihnen bei den Gesamtarbeitsverträgen (GAV) entgegenkommt. Damit ein solcher Vertrag allgemeinverbindlich erklärt werden kann, müssten eigentlich mehr als die Hälfte der betroffenen Arbeitnehmer in der antragstellenden Gewerkschaft vertreten sein. Das Problem: Dieses Quorum wird meist nicht erreicht – und trotzdem werden die GAV von Bundesrat und Kantonen allgemeinverbindlich erklärt.

Denn das Gesetz sieht vor, dass «ausnahmsweise bei besonderen Verhältnissen» vom Quorum abgesehen werden kann. Und von dieser Ausnahmeregelung wird rege Gebrauch gemacht. Laut Seco sind derzeit 77 allgemeinverbindliche GAV in Kraft. Bei rund 70 Prozent davon wurde das Arbeitnehmerquorum nicht erreicht – und der Bund musste eine Ausnahmeregelung anwenden. «Die Ausnahme ist zur Regel geworden», heisst es in einem vertraulichen Seco-Papier vom November 2022.

Das sorgt für Kritik: «Der Bundesrat hält sich nicht ans Gesetz, ich erwarte, dass er seine Praxis ändert», sagt der SVP-Fraktionschef Thomas Aeschi. Die Gewerkschaften hätten nicht mehr dieselbe Legitimität wie früher. «Es ist unhaltbar, wenn der Ausnahmefall zur Regel wird, wir werden das in der Wirtschaftskommission thematisieren», sagt Aeschi als Kommissionspräsident. Adressat seiner Kritik ist dabei primär SVP-Wirtschaftsminister Guy Parmelin. Dieser hat nach einem runden Tisch mit den Sozialpartnern im November 2022 beschlossen, nichts am geltenden Ausnahmeregime zu ändern.

Die Gewerkschaften wollen indes genau das Gegenteil – nämlich eine generelle Senkung des Quorums. «Diese Bestimmungen stammen aus dem Jahr 1956, sie müssen modernisiert werden», sagt der SGB-Chefökonom Daniel Lampart. Es gebe zahlreiche Gründe, weshalb sich weniger Leute als früher den Gewerkschaften anschlössen: «Der Arbeitsmarkt ist heute viel internationaler und stärker fragmentiert, das erschwert die Mitgliederwerbung. Zudem schreitet die Individualisierung voran, das spüren viele Organisationen», sagt Lampart.

Pikant: Die tieferen Hürden für das Zustandekommen von GAV gehören zum Forderungskatalog, den der Gewerkschaftsbund bereits im Juni als Bedingung für seine Zustimmung zu einem neuen Europa-Abkommen aufgestellt hat. Die Gewerkschaften wollen die Gunst der Stunde nutzen.

Kritik aus den eigenen Reihen

Doch Maillards Powerplay wird selbst gewerkschaftsintern kritisiert. «Ich finde nicht, dass wir jetzt einen Konfrontationskurs wie der SGB einschlagen sollten», sagt Yvonne Feri, Präsidentin der Gewerkschaft Syna. Es brauche noch Verbesserungen am Verhandlungspaket. «Aber wir sind nicht am Punkt, an dem wir Totalopposition machen sollten.»

Problematisch ist Maillards Vorgehen auch für die SP, die den europapolitischen Kurs des Bundesrats grundsätzlich unterstützt. In der Partei herrscht denn auch vielerorts betretenes Schweigen. Europapolitiker wie Nationalratspräsident Eric Nussbaumer oder Barbara Gysi, die Präsidentin des Gewerkschaftsbunds St. Gallen und Mitglied der Europäischen Bewegung ist, halten sich zurück. Sie wollen derzeit kein Öl ins Feuer giessen.

Die Sache nicht auf sich beruhen lassen mochte hingegen SP-Nationalrat Roger Nordmann. Er reagierte mit einem Tweet auf Maillard, in dem er den Bundesrat dazu aufrief, möglichst rasch weiterzuverhandeln und das Ergebnis in die Vernehmlassung zu geben. «Der Bundesrat hat schon viel erreicht. Jetzt muss sich die Diskussion von der internationalen auf die nationale Ebene verschieben», sagt Nordmann. Wie bei den Bilateralen I brauche es nun eine Absicherung des Verhandlungsergebnisses mit flankierenden Massnahmen. «Wichtig ist, dass wir in der Bevölkerung Vertrauen schaffen», sagt der Romand – während sein Parteifreund Maillard genau das Gegenteil tut. Das nächste Mal am Freitag im Albisgütli.

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