DANIEL FOPPA

So geht Frieden

So geht Frieden

Was braucht es, um einen ausweglos scheinenden Konflikt zu lösen? Wir haben nachgefragt bei einem Experten, der erfolgreiche Friedensprozesse analysiert. Und dabei wiederkehrende Muster erkennt.
NZZ am Sonntag, 15. Oktober 2023

Daniel Foppa

Die Kriege in Nahost und in der Ukraine werden mit äusserster Brutalität gegenüber der Zivilbevölkerung geführt. Beide Konflikte verbindet, dass sie schon jahrelang anhalten – und eine Lösung ferner scheint denn je. Doch es gibt auch Gegenbeispiele: bewaffnete Auseinandersetzungen, die bisweilen jahrzehntelang dauerten und trotzdem befriedet werden konnten.

Ihnen allen ist etwas gemeinsam: Den perfekten Frieden gibt es nicht. So hat das Volk in Kolumbien das Friedensabkommen abgelehnt, und viele Täter gingen im Rahmen des Versöhnungsprozesses straflos aus. Dasselbe war in Südafrika der Fall. Aber die Gewalt zwischen den Konfliktparteien nahm zumeist ein Ende.

«Frieden ist ein Prozess, der nie alle Beteiligten zufriedenstellt», sagt der Basler Politikwissenschafter und Swisspeace-Direktor Laurent Goetschel. Er befindet sich derzeit in Korea, wo der 70. Jahrestag des Waffenstillstandsabkommens begangen wird. Die Schweiz überwacht gemeinsam mit Schweden als neutrale Vertreterin der Südseite die Einhaltung des Abkommens.

Goetschel und sein Institut versuchen, Lehren aus Konflikten zu ziehen und daraus Möglichkeiten der Friedensförderung abzuleiten. «Jeder Konflikt ist einzigartig, aber es gibt bei erfolgreichen Friedensprozessen wiederkehrende Muster», sagt er. So müsse als Erstes eine gewisse Vertrauensbasis zwischen den Konfliktparteien hergestellt werden – etwa durch direkte Gespräche zwischen ihren Exponenten. «Die Verantwortlichen müssen zur Einsicht kommen, dass Verhandlungen zwar Risiken mit sich bringen, letztlich aber politisch der erfolgreichere Weg sind», sagt Goetschel.

Beide Seiten müssen sich dabei an Ergebnissen orientieren, die sich nicht grundsätzlich ausschliessen. «Wenn eine Seite die völlige Unabhängigkeit will und die andere die völlige Unterstellung, findet man sich vermutlich nicht.» Entscheidend sei weiter eine internationale Begleitung des Prozesses – sei es durch politische oder wirtschaftliche Unterstützung oder durch einen gewissen Druck. «Reine Top-down-Entscheide von internationalen Akteuren sind aber meistens zum Scheitern verurteilt», sagt Goetschel.

Es brauche eine lokale Verankerung. Schliesslich sei es besonders bei langen Konflikten wichtig, dass von Beginn an die Aufarbeitung des Geschehenen miteinbezogen werde. «Wenn sehr viele Leute unter einem Konflikt gelitten haben, ist die Aussicht auf eine bestimmte Art von Gerechtigkeit essenziell.»

Und die Situation in Nahost? Goetschel erinnert an die Zeit des Osloer Friedensprozesses zu Beginn der 1990er Jahre oder an eine Tradition des friedlichen Zusammenlebens der Religionen in der Region. Und weiss, dass solche Verweise angesichts der aktuellen Situation keine Hoffnung verbreiten. Im Gegensatz zu verschiedenen beigelegten oder zumindest transformierten Konflikten, die Goetschel hier analysiert.

Nordirland: Geheimgespräche von zwei Persönlichkeiten

Dauer: 1969–1998
Opfer: 3600 Tote, über 47 000 Verletzte

Verlauf: Im Konflikt, auch «The Troubles» genannt, kämpften überwiegend katholische Befürworter einer Vereinigung Nordirlands mit der Republik Irland gegen meist protestantische Anhänger der Union mit Grossbritannien, seiner Polizei und dem britischen Militär. Die Spannungen eskalierten 1969 in offene Gewalt. 1998 führte das Karfreitagsabkommen zum formalen Ende des Bürgerkriegs.

Gegenwärtige Lage: Die Lage bleibt angespannt. Zur Belastung wurde der Brexit, wodurch die innerirische Grenze zur EU-Aussengrenze wurde. 2019 wurde bei Strassenunruhen eine Journalistin durch die New IRA erschossen. Diesen Herbst kam es zu weiteren Ausschreitungen in Nordirland.

Der Weg zum Frieden: «Entscheidend war, dass der Friedensprozess auf mehreren Ebenen parallel lief: So einigten sich Grossbritannien und Irland 1985 darauf, dass Nordirland mehr Autonomie und Irland eine beratende Rolle im Konflikt erhält. Das setzte einen Prozess in Gang, der durch zwei Persönlichkeiten geprägt war, die sich vertrauten: In Geheimgesprächen näherten der gemässigte nordirische Politiker John Hume und Gerry Adams vom politischen Arm der Untergrundorganisation IRA ihre Positionen an. Es folgte eine Waffenruhe und schliesslich das Karfreitagsabkommen von 1998, das ein klassischer Kompromiss ist: Irland verzichtet auf den Anspruch einer Wiedervereinigung, doch diese bleibt möglich, wenn dies eine Mehrheit der Nordiren will. Die Bevölkerungen beider Länder stimmten dem Abkommen zu. Wichtig war auch, dass die USA eine Vermittlerrolle spielten und dass Grossbritannien mitmachte. Es gab damit einen Begleitprozess von aussen, und die Akteure im Innern waren bereit, aufeinander zuzugehen. Adams und Hume nahmen grosse persönliche Risiken auf sich, Hume erhielt dafür später den Friedensnobelpreis.»

Kolumbien: Das Volk sagte Nein zum Friedensvertrag

Dauer: 1964–2016
Opfer: Rund 220 000 Tote

Verlauf: Über fünfzig Jahre führte die linke Rebellengruppe Farc einen bewaffneten Kampf gegen den kolumbianischen Staat sowie gegen rechte Paramilitärs. Um Geld für Waffen zu bekommen, betrieb sie Drogenhandel oder entführte Unbeteiligte. 2016 unterzeichnete die Farc mit der Regierung einen Friedensvertrag und legte die Waffen nieder.

Gegenwärtige Lage: Trotz dem Friedensvertrag kontrollieren weiterhin illegale Gruppen Teile des Landes, und Zivilisten werden von ihnen umgebracht. Derzeit laufen Friedensgespräche, bei denen auch die Schweiz vermittelt.

Der Weg zum Frieden: «Der Friedensprozess wurde mit Verhandlungen in Norwegen und Kuba eingeleitet. Auch die Schweiz war beteiligt, unter anderem mit dem etwas eigenmächtig handelnden Genfer Professor Jean-Pierre Gontard als Vermittler. Schliesslich kam ein Friedensvertrag zwischen der Farc und der Regierung zustande. Dieser wurde 2016 der kolumbianischen Bevölkerung vorgelegt, die ihn knapp ablehnte. Kritisiert wurde, der Friedensvertrag sehe für die Farc-Vertreter zu viel Amnestie und kompensierende Elemente und zu wenig strafende Momente vor.

Kurzerhand wurde zwischen den Konfliktparteien ein neuer Vertrag ausgehandelt, der dann nicht mehr dem Volk, sondern nur noch dem Parlament vorgelegt wurde. Dieses stimmte zu, und der Vertrag trat in Kraft. Ein solches Vorgehen mag aus unserer Sicht demokratiepolitisch fragwürdig sein, aber der Friedensvertrag war ein wichtiger Schritt zur Eindämmung der Gewalt.

Präsident Juan Manuel Santos erhielt denn auch im selben Jahr den Friedensnobelpreis. Weiter wurde die Zivilgesellschaft vorbildlich in das ganze Verfahren und in die Aufarbeitung der Vergangenheit einbezogen. Insgesamt ist der Friedensprozess in Kolumbien eine interessante Mischung aus Top-down-Entscheid und Inklusion.»

Südafrika: Sanktionen haben gewirkt

Dauer: 1948–1994
Opfer: Keine verlässliche Gesamtzahl. Allein der Aufstand in Soweto 1976 forderte rund 600 Tote.

Verlauf: Die Apartheid war ein rassistisches System der Diskriminierung, das 1948 durch die weisse Minderheitsregierung etabliert wurde: Wohngebiete wurden getrennt, Mischehen verboten, nur Weisse durften wählen. Proteste wurden blutig niedergeschlagen. Erst 1994 fanden die ersten demokratischen Wahlen statt: Der Afrikanische Nationale Kongress (ANC) gewinnt, Nelson Mandela wird nach 27 Jahren im Gefängnis der erste schwarze Präsident.

Gegenwärtige Lage: Die wirtschaftliche Situation ist prekär, der regierende ANC hat das Land heruntergewirtschaftet. Die Kriminalitätsrate ist hoch und die Regierung von Präsident Cyril Ramaphosa von Skandalen erschüttert.

Der Weg zum Frieden: «Der internationale Druck war entscheidend für das Ende der Apartheid. Und die Einsicht von Frederik Willem de Klerk, dass es so nicht weitergehen konnte. Das zeigt, wie wichtig Einzelpersonen in einem Friedensprozess sein können. Als er 1989 Präsident wurde, war Südafrika ein Paria-Staat, die Wirtschaft wegen der Sanktionen stark geschwächt. Zudem herrschte ein permanenter Ausnahmezustand.

De Klerk nahm Geheimverhandlungen mit dem inhaftierten ANC-Führer Mandela auf, liess ihn frei. Beide erhielten den Friedensnobelpreis. Schliesslich sprach sich eine Mehrheit der weissen Bevölkerung für das Ende der Apartheid aus. Südafrika zeigt, dass Sanktionen wirken können. Und es ist abgesehen vom Vietnamkrieg der erste Konflikt, in dem der Druck der internationalen Zivilgesellschaft eine Rolle spielte.

Nach dem Ende der Apartheid wurde eine Versöhnungs- und Wahrheitskommission eingesetzt. Deren Arbeit wurde kritisiert, weil Täter, die vor ihr aussagten, straffrei blieben. Dennoch hat die Kommission einen entscheidenden Beitrag zur Versöhnung geleistet. Ihre Arbeit zeigt, wie wichtig die Aufarbeitung ist. Und dass ein Friedensprozess keine akademische Arbeit ist, sondern sich den jeweiligen Gegebenheiten anpassen muss.»

Bosnien: Ein Macht-Mediator am Werk

Dauer: 1992–1995
Opfer: Zirka 100 000 Tote, rund 60 000 von ihnen Soldaten

Verlauf: Während des Zerfalls von Jugoslawien stiegen auch in der Teilrepublik Bosnien und Herzegowina die Spannungen zwischen Bosniern, Serben und Kroaten. Der Bosnienkrieg begann 1992 mit der Belagerung Sarajevos durch die jugoslawische Volksarmee und die serbische Armee der Republika Srpska. Während des Kriegs kam es zum Völkermord von Srebrenica, als bosnisch-serbische Einheiten über 8000 muslimische Bosniaken ermordeten. Nach Erfolgen von bosnisch-muslimischen und bosnisch-kroatischen Einheiten sowie Nato-Luftangriffen auf bosnisch-serbische Truppen zogen sich Letztere zurück. Der Friedensvertrag von Dayton beendete den Krieg.

Gegenwärtige Lage: Die Situation in Bosnien bleibt dauerhaft angespannt, insbesondere in Bezug auf die von Moskau und Belgrad unterstützte, abspaltungswillige Republika Srpska. In jüngster Zeit häuften sich dort wieder die Attacken auf Bosniaken.

Der Weg zum Frieden: «Eine Hauptrolle spielte der amerikanische Spitzendiplomat Richard Holbrooke. Er war ein Mediator, der den ganzen Druck der USA ausspielte. Im Buch ‹To End a War› berichtet er von seiner Pendeldiplomatie. So soll er Serbiens Präsidenten Slobodan Milošević mit der Bombardierung gedroht haben, wenn er sich einer Einigung verweigere. Schliesslich unterzeichneten die Präsidenten Serbiens, Kroatiens und Bosniens in Dayton den Friedensvertrag.

Dabei entwarf man von aussen ein Staatsgebilde, das aus einer bosnisch-kroatischen Föderation und der Republika Srpska besteht. Man dachte, wenn jeder Bevölkerungsteil ein Gebiet erhalte, würden sie gut zusammenarbeiten. Das ist aber nicht so gekommen. Zudem setzte die Uno einen mit grossen Vollmachten ausgestatteten Hohen Repräsentanten ein, der die Umsetzung des Dayton-Abkommens überwachen soll. Auch dieses Amt steht in der Kritik und zeigt, wie schwierig eine Friedenslösung ist, wenn sie top-down entsteht. Die Legitimation dieser Konstruktion ist nicht so, wie sie sein sollte.»

Korea: Die erschöpften Kriegsparteien

Dauer: 1950-1953
Opfer: Zirka 4 Millionen tote Zivilisten und Soldaten

Verlauf: Korea war von 1910 bis 1945 japanische Kolonie. Nach dem Zweiten Weltkrieg teilten die Sowjetunion und die USA die Insel in zwei Einflusssphären. 1950 kam es zum Stellvertreterkrieg: China und Nordkorea kämpften gegen Südkorea, das von den USA und der Uno unterstützt wurde. Der Krieg begann mit einem Angriff des von Moskau ermutigten Nordkorea, 1953 kam es zum Waffenstillstand.

Gegenwärtige Lage: Der Konflikt zwischen Nord- und Südkorea ist eingefroren, ein Friedensvertrag kam nie zustande. Zur Überwachung des Waffenstillstandes wurde eine Kommission neutraler Staaten geschaffen, an der sich auch die Schweiz beteiligt. Regelmässig kommt es an der Grenze zu Spannungen und Machtdemonstrationen.

Der Weg zum Frieden: «Der heute oft vergessene Krieg dauerte nur wenige Jahre, war aber äusserst blutig. Nach einer besonders verlustreichen Schlacht 1951 waren die Konfliktparteien erschöpft, und es kam zu einem für beide Seiten militärisch aussichtslosen Patt. Der Amerikaner William Zartman, ein Pionier der Konfliktforschung, beschrieb eine solche Situation als ‹mutually hurting stalemate›: Friedensverhandlungen sind demnach am wahrscheinlichsten, wenn beide Konfliktparteien genug gelitten haben. Ausschlaggebend für den Waffenstillstand waren dabei die USA und die Sowjetunion. Die Amerikaner übten Druck auf China aus, und sowjetische Verhandler nutzten die Gunst der Stunde, als nach dem Tod von Stalin eine kurze Entspannungsphase anbrach. Nach dem Waffenstillstand suchte man nach Möglichkeiten, diesen zu stabilisieren. Nord- und Südkorea willigten schliesslich in eine demilitarisierte Zone und die Überwachung derselben ein. Weil hier aber ein Konflikt von geopolitischer Dimension vorliegt, sind weitere Friedensschritte enorm zäh.»

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