DANIEL FOPPA

Selenski und die Kleingeister

Selenski und die Kleingeister

Man muss Wolodimir Selenski nicht mögen, aber man sollte die Relationen wahren. Unter seiner Führung kämpft die Ukraine für Europas Sicherheit – das zählt weit mehr als kleinkarierte Kritik an seiner Person.
NZZ am Sonntag, 20. Januar 2024

Daniel Foppa

Er war der Meister des Grotesken und passt damit wunderbar in unsere Zeit: Friedrich Dürrenmatt, der Welterklärer aus Konolfingen. In seinem Roman «Justiz» begeht ein Politiker vor zahlreichen Zeugen einen Mord. Doch wider alle Vernunft wird er am Schluss freigesprochen: Geschickt hat es der Täter mithilfe eines gekauften Anwalts geschafft, immer mehr Zweifel an seiner Schuld zu streuen.

Wer das Buch liest, stellt Parallelen zum Ukraine-Krieg fest. Denn auch hier wird die Schuldfrage zunehmend relativiert. Mit fortschreitender Kriegsdauer mehren sich die Stimmen, die der Ukraine eine Mitschuld am Krieg geben und ihren Antipathien gegen Präsident Selenski freien Lauf lassen.

Nun spricht nichts dagegen, Mehrheitspositionen und scheinbare Gewissheiten zu hinterfragen – im Gegenteil. Aber der Relativismus stösst dort an seine Grenzen, wo es um die Verteidigung von Freiheit und Demokratie geht.

Man muss Selenski nicht mögen, man mag seine Betteltouren penetrant, sein Auftreten zu pathetisch und seine Vergangenheit als Komiker daneben finden. Aber wer ob solcher Oberflächlichkeiten vergisst, dass sich hier ein demokratisch gewählter Präsident gegen einen Angriff auf sein Land wehrt, hat den moralischen Kompass verloren.

Es irritiert denn auch, wie innerhalb der SVP die Selenski-Kritik lauter wird. Zurückhaltung bei der Unterstützung der Ukraine aus neutralitätspolitischen Überlegungen ist das eine. Wenn aber Selenski als «kleiner Mann» oder «Schauspieler» diskreditiert wird und selbst der frühere Verteidigungsminister Ueli Maurer in Armeeabschaffer-Manier raunt, mehr Waffen für die Ukraine bedeuteten bloss noch mehr Tote, stochern die Parteiexponenten damit im selben trüben Teich wie Sahra Wagenknecht oder Alice Schwarzer.

Sie alle tragen dazu bei, dass sich im Westen eine «Ukraine-Fatigue» verbreitet, eine Kriegsmüdigkeit, ohne dass man direkt an der kriegerischen Auseinandersetzung beteiligt ist. Dringend nötig wäre indes das Gegenteil – eine stärkere Unterstützung der Ukraine, die die europäische Sicherheitsordnung verteidigt.

Das gilt auch für die Schweiz. Denn auch der Neutrale sollte wissen, auf welcher Seite der Geschichte er steht.

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