DANIEL FOPPA

Schicksalsjahr

Protokolle eines Schicksalsjahrs

Am 18. Mai 1992 entschied der Bundesrat überraschend, ein EU-Beitrittsgesuch zu stellen. Wie kam es dazu? Neue Dokumente geben Aufschluss.
NZZ am Sonntag, 1. Januar 2023

Daniel Foppa

Arnold Koller versteht die Welt nicht mehr. Der CVP-Justizminister ist eben von der Bundesratssitzung in sein Büro im Bundeshaus West zurückgekehrt. Und empfindet «eine riesige Leere», wie er später schreibt. Kurz zuvor hatte die Landesregierung entschieden, bei der EU ein Gesuch um Beitrittsverhandlungen einzureichen.

«Ich hatte nicht mit diesem Entscheid gerechnet. Und ich hatte vor allem nicht damit gerechnet, dass er so leichtfertig gefällt wird», sagt der 89-Jährige heute. Für ihn sei danach klar gewesen: «Jetzt ist das Nein zum EWR vorprogrammiert.» Tatsächlich scheiterte am 6. Dezember desselben Jahres der Beitritt zum Europäischen Wirtschaftsraum an der Urne. Viele Stimmberechtigte wollten mit ihrem Nein auch ein Zeichen setzen gegen die EU-Offensive der Regierung.

Doch was genau hat sich an jenem denkwürdigen 18. Mai 1992 im Bundesratszimmer abgespielt? Antworten liefert das bisher geheime Protokoll dieser Sitzung. Denn mit dem heutigen Tag endet die 30-jährige Sperrfrist für das klassifizierte Papier.

Zur Sitzung aufgeboten hatte SP-Bundespräsident René Felber. Der Romand muss wegen einer Krebserkrankung ins Spital, möchte zuvor aber erreichen, dass der Bundesrat dem Beitrittsgesuch zustimmt. Deshalb hat er kurzfristig eine Sitzung für sieben Uhr morgens angesetzt. Unerwartet kommt sein Ansinnen nicht.

Im Jahr zuvor hatte der Bundesrat den EU-Beitritt zum strategischen Ziel erklärt. «Wenn man diesen Grundsatzentscheid fällt, muss man irgendwann auch über Beitrittsverhandlungen reden», sagt heute Adolf Ogi, damals Verkehrsminister. Felber hatte schon mehrfach versucht, das Gesuch durch den Bundesrat zu bringen. Nun sollte es klappen.

Zunächst diskutieren die Bundesräte über einen Verwaltungsbericht zur Beitrittsfrage. Als erster meldet sich SP-Finanzminister Otto Stich zu Wort – betont kritisch:

«Für Bundesrat Stich ist der allgemeine Ton weiterhin zu positiv. Dies ist bedauerlich und entspricht nicht der Wirklichkeit.»

EU-Kritiker Stich geht damit auf Distanz zum Kurs seiner Partei und insbesondere zur proeuropäischen Haltung von SP-Präsident Peter Bodenmann. Sukkurs erhält er von FDP-Verteidigungsminister Kaspar Villiger:

«Der Bundesrat muss ehrlicheAussagen machen und klar zum Ausdruck bringen, dass Neutralität und Mitgliedschaft zur EG nicht kompatibel sind.»

Während Arnold Koller vor den negativen Folgen für die EWR-Abstimmung warnt, schafft es Stich, dass der Bericht mit einer weiteren Warnung versehen wird:

«Ebenfalls angenommen wird ein Vorschlag von Bundesrat Stich, wonach ein Beitritt zur EG schwerwiegende Folgen für unsereStabilitätspolitik haben wird.»

Die Kritik an einem Beitrittsgesuch fällt überdeutlich aus: wirklichkeitsfremd, nicht vereinbar mit der Neutralität, eine Gefahr für die EWR-Abstimmung, eine Bedrohung für den Staatshaushalt. Wie kommt es, dass sich am Ende der Sitzung trotzdem eine Mehrheit des Bundesrats für das Gesuch ausspricht?

Treibende Kräfte sind Aussenminister Felber und FDP-Wirtschaftsminister Jean-Pascal Delamuraz. Der Romand mahnt zur Eile:

«Herr Delamuraz antwortet, je länger man warte, desto mehr verhindere der Prozess innerhalb der EG, dass der Neuling verhandeln könne. Derzeit sei nur noch ein Drittel oder ein Viertel der Substanz zu verhandeln.»*

Delamuraz fürchtet, dass sich die Strukturen innerhalb der Europäischen Gemeinschaft immer mehr verfestigen, etwa mit der Währungs- und Wirtschaftsunion oder einer gemeinsamen Aussenpolitik. Je länger Beitrittskandidaten zuwarteten, desto kleiner sei ihr Verhandlungsspielraum. Auch CVP-Innenminister Flavio Cotti möchte das Gesuch rasch einreichen. Der Tessiner ruft in Erinnerung, dass der EU-Beitritt ein strategisches Ziel darstelle, und erklärt, der EWR sei aus seiner Sicht keine gleichwertige Lösung.

Damit sind die Fronten abgesteckt – und sie gehen quer durch die Parteien: Hier drei lateinische Bundesräte von SP, FDP und CVP, die möglichst rasch ein Gesuch einreichen möchten. Dort drei Deutschschweizer Bundesräte von SP, FDP und CVP, die davon nichts wissen wollen. Bleibt ein Bundesrat, der den Ausschlag geben wird: Adolf Ogi.

Bemerkenswert ist, wie sich die Haltung des SVP-Bundesrats während der Sitzung entwickelt. So greift Ogi zunächst Stichs Argument auf, dass man nichts überstürzen und Erfahrungen mit einem allfälligen EWR-Beitritt sammeln soll. Zudem fügt er an:

«Bundesrat Ogi befürchtet, dass ein rasches Gesuch sowohl die Abstimmung über die Neat als auch jene über den EWR belasten könnte. Es gilt, die Diskussion im Parlament abzuwarten und von der britischen Präsidentschaft zu profitieren. Ein Gesuch sollte deshalb erst im Herbst gestellt werden.»

Der Verkehrsminister denkt an die Abstimmung vom 27. September 1992 über die neue Eisenbahn-Alpentransversale. Ogis Angst: Milliarden für eine Neat ausgeben – die auch mit Blick auf ein gutes bilaterales Einvernehmen mit der EU gebaut wird – und gleichzeitig ein Beitrittsgesuch stellen, könnte das Fuder überladen. Zudem erwartet Ogi, dass eine britische Ratspräsidentschaft mehr Verständnis für Schweizer Anliegen hat als die noch bis Ende Juni 1992 amtierenden Portugiesen.

Felber hält umgehend dagegen: Laut ihm würde das Beitrittsgesuch ohnehin erst von den Briten behandelt. Zudem ermögliche ein rasches Gesuch eine bessere Unterscheidung zwischen dem Beitrittsprozess und der EWR-Abstimmung vom Dezember. Auch Delamuraz weist Ogis Bedenken zurück: Es wäre laut ihm «unglaubwürdig», mit dem Gesuch bis nach der Neat-Abstimmung zuzuwarten.

Dies würde so interpretiert, dass der Bundesrat Angst vor einem Nein zur Neat hätte. Und wenn man den Entscheid vom Ratspräsidium abhängig mache, entstehe der Eindruck eines Bundesrats im Schlepptau der EU. Die Argumente der Romands wirken. Ogi schwenkt in einer zweiten Diskussionsrunde um:

«Herr Ogi ist damit einverstanden, seinen Vorschlag fallenzulassen, wonach das Gesuch erst nach der Neat-Abstimmung eingereicht werden soll.»*

Danach folgt die entscheidende Abstimmung. Das Protokoll vermerkt lakonisch:

«Der Bundesrat entscheidet somit mehrheitlich, der EU noch vor der EWR-Abstimmung ein Gesuch um Aufnahme von Beitrittsverhandlungen zu stellen.»*

«Wir haben einen richtigen und ehrlichen Entscheid getroffen», sagt Ogi rückblickend. «Dazu stehe ich noch heute felsenfest wie ein Kandersteger.» Er lässt durchblicken, dass sein Meinungsumschwung auch stark von einer zwischenmenschlichen Komponente beeinflusst wurde. «Wir wussten nicht, ob Bundespräsident Felber aus dem Spital zurückkehren wird. Für ihn war es sehr wichtig, das Gesuch rasch einzureichen.»

Ogi betont zudem, dass es sich nicht um ein Beitrittsgesuch gehandelt habe, sondern um ein Gesuch um Aufnahme von Beitrittsverhandlungen. «Ich liess als Vizepräsident im Brief an die EU diese Präzisierung einfügen.» Das Gesuch hätte nicht zwangsläufig zum Beitritt geführt, sagt Ogi. «Bundesrat und Parlament hätten das Verhandlungsergebnis kritisch beurteilt, und ohnehin wäre das letzte Wort beim Volk gelegen.»

Zwei Tage nach der Bundesratssitzung wird das Gesuch verabschiedet und die Öffentlichkeit informiert. Christoph Blocher sagt später, er habe an diesem Tag eine gute Flasche Wein aufgemacht. Tatsächlich ist das Gesuch Wasser auf die Mühlen der EWR-Gegner. Der Bundesrat setzt derweil zur grossflächigen Informationskampagne an: Er budgetiert dafür 5,38 Millionen Franken – und die Verwaltung kooperiert «eng» mit den Medien. So heisst es im ebenfalls nun publik gewordenen Informationskonzept des Integrationsbüros:

«Auflagenstarke Zeitungen wie der ‹Blick› oder ‹Le Matin› arbeiten eng mit dem Informationsdienst des Integrationsbüros zusammen, um regelmässig einer möglichst grossen Leserschaft Informationen zu präsentieren.»*

Genützt hat es nichts. Einen Tag nach dem EWR-Nein vom 6. Dezember 1992 trifft sich der Bundesrat zur Aussprache. Das Protokoll dieser Sitzung widerspiegelt die düstere Stimmung im Bundesrat, der laut Ogi «im Regen» steht. Er fordert:

«Das Beitrittsgesuch bei der EG muss nicht zurückgezogen werden, doch sollte man versuchen, durch ein Gentlemen’s Agreement zu erreichen, dass es nicht sofort behandelt wird.»

Tatsächlich wird das Gesuch von der EU liegengelassen. Der Bundesrat wird es fortan als «gegenstandslos» bezeichnen und 2016 auf Geheiss des Parlaments zurückziehen.

Damit endet eine Episode der Schweizer Aussenpolitik, die in einer Bundesratssitzung vom Mai 1992 eine entscheidende Wendung nahm. Bemerkenswert bleibt, wie sehr dieser Entscheid durch aussenpolitische und auch zwischenmenschliche Faktoren beeinflusst wurde. Innenpolitische Überlegungen wurden weniger stark gewichtet, was schliesslich zum EWR-Nein beigetragen hat. Und dazu führte, dass 1992 zum Schicksalsjahr der schweizerischen Europapolitik wurde.

*Original auf Französisch

Protokoll im Original

30 Jahre mussten Forscher und interessierte Kreise warten, bis sie das Protokoll der Bundesratssitzung vom 18. Mai 1992 lesen konnten. Am Neujahrstag hat es die Forschungsstelle Dodis nun publiziert – zusammen mit weiteren Dokumenten aus dem Jahr 1992. Zu finden ist die Publikation auf dodis.ch

Vernissage in Bern

Am 3. Januar findet um 16 Uhr im Bundesarchiv Bern die Vernissage der Diplomatischen Dokumente 1992 statt. Alt-Staatssekretär Jakob Kellenberger referiert zum Thema: «1992: Erinnerungen an ein bewegtes Jahr». Anschliessend Podiumsgespräch mit Jakob Kellenberger und Sacha Zala, Direktor der Forschungsstelle Dodis. Moderation: Daniel Foppa. Details unter dodis.ch.

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