DANIEL FOPPA

Widerstand gegen die «Anti-Menschenrechts-Initiative»: Anhänger verschiedener NGOs zeigen der SVP die Rote Karte, 12. August 2016. Foto: Peter Schneider (Keystone)

Politblog: Jenseits von Gut und Böse

Die Selbstbestimmungsinitiative der SVP wäre eine gute Gelegenheit zur staatspolitischen Grundsatzdebatte. Doch im Abstimmungskampf dominieren hüben wie drüben die Schlagworte.
Newsnetz, 12. Oktober 2018

Daniel Foppa

Volksabstimmungen sind wie das TV-Programm: Bisweilen werden Dinge präsentiert, über die man nur den Kopf schütteln kann. Daneben gibt es Stoffe, die interessant, aber schnell abgehakt sind. Und dann gibt es Themen, die zur vertieften Auseinandersetzung einladen.

Ein solches Thema ist die Selbstbestimmungsinitiative. Sie wirft die Grundsatzfrage nach dem Verhältnis von Landesrecht und Völkerrecht auf. Die Frage ist in einer direkten Demokratie derart brisant, dass sie die Schöpfer der neuen Bundesverfassung von 1999 bewusst offengelassen haben.

In seltener Unklarheit heisst es deshalb in Artikel 190 der Verfassung: «Bundesgesetze und Völkerrecht sind für das Bundesgericht und die anderen Recht anwendenden Behörden massgebend.» Und jetzt? Was bitte schön soll im Konfliktfall gelten?

Eine verpasste Chance

Eine Antwort liefern will die SVP-Initiative, indem sie der Verfassung in jedem Fall Vorrang gibt gegenüber völkerrechtlichen Verpflichtungen. Ein provokativ vereinfachender Ansatz – aber auch eine gute Gelegenheit zur staatspolitischen Grundsatzdebatte.

Wer allerdings den bisherigen Abstimmungskampf verfolgt, muss eher von einer verpassten Chance sprechen: Die SVP bezeichnet die Gegner als heimatmüde, während auf der Gegenseite vor dem Fall in die Barbarei gewarnt wird. Noch bleibt über ein Monat Zeit bis zur Abstimmung, in der die Debatte an Tiefe gewinnen kann. Vor einer Woche haben wir in diesem Zusammenhang den aufschlussreichen Sammelband «Frau Huber geht nach Strassburg» vorgestellt.

Zwischen Völkerrecht und Landesrecht

Hier sei das Buch «Völkerrecht. Geschichte und Grundlagen mit Seitenblicken auf die Schweiz» empfohlen. Es stammt von Völkerrechtler Oliver Diggelmann, einem der lesenswertesten Rechtsexperten des Landes. Diggelmann liefert keine dröge Juristenkost, sondern eine anregende historische Abhandlung mit aktuellem Bezug. Nachzulesen ist, wie sich das Völkerrecht ab dem 15. Jahrhundert entwickelte, wie es durch Ereignisse wie den Westfälischen Frieden und den Wiener Kongress geschärft wurde und schliesslich Völkerbund und UNO entstanden.

Der Zürcher sieht sein Buch als Beitrag zur Versachlichung einer Diskussion, die in beiden Lagern «zu sehr in den Kategorien ‹gut› gegen ‹böse› geführt wird». Diesen Anspruch löst er ein, sein Buch zeugt von einer bemerkenswerten Ambivalenz. So beleuchtet Diggelmann anschaulich das «Verzahnungsproblem», das sich zwischen Völkerrecht und Landesrecht ergibt. Und er weist darauf hin, dass das internationale Recht ständig wachse, wobei die demokratische Mitsprache nicht sehr ausgeprägt sei.

«Kein Synonym für Gerechtigkeit»

Diggelmann hält fest: «Das Völkerrecht ist kein Synonym für Gerechtigkeit.» Das möge manche enttäuschen, die es spontan mit Menschenrechten gleichsetzen. Doch beim Völkerrecht gehe es primär um die Erhaltung und Wiederherstellung von Stabilität.

Diese differenzierte Sicht ist ein bemerkenswerter Beitrag in der aufgeladenen Debatte. Umso glaubwürdiger fällt die Bilanz des Experten aus, wenn er zum Schluss resümiert: «Das Völkerrecht ist im innersten Kern ein Zivilisationsprojekt, auf das wir angewiesen sind.» Deshalb ist für Diggelmann letztlich klar: Die Selbstbestimmungsinitiative «ist ein schlichter, zu schlichter Zugang zur Thematik des Verhältnisses von Völkerrecht und Landesrecht».

Oliver Diggelmann: Völkerrecht. Geschichte und Grundlagen mit Seitenblicken auf die Schweiz. Hier und Jetzt, Baden 2018. 216 S., 34 Fr.

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