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Ob wir wollen oder nicht: Diese Zeitenwende betrifft auch uns

Die Schweiz hat kein Ticket gelöst, das ein Verschontsein vor den Stürmen der Welt garantiert. Wir müssen unsere Sicherheitspolitik überdenken. An einer stärkeren Kooperation mit den Nachbarn führt kein Weg vorbei, findet Daniel Foppa.
NZZ am Sonntag, 9. März 2025

Daniel Foppa

Und plötzlich ist da so etwas wie ein Churchill-Moment. Plötzlich scheint es Europas Regierungen ernst, die Sicherheitsarchitektur des Kontinents robuster und verflochtener zu gestalten. Mit eindrücklichen 800 Milliarden Euro wollen die EU-Länder ihre Verteidigungsfähigkeit ausbauen. Dass dafür neue Schulden gemacht werden, ist zwar problematisch. Aber es gibt kaum Alternativen, um jahrelange Versäumnisse in der Verteidigungspolitik rasch aufzuholen.

Die EU mit ihren 450 Millionen Bewohnern kann nicht wie Selenski den Kotau vor US-Präsident Trump machen und sich auf Gedeih und Verderb den Amerikanern ausliefern. 70 Jahre nachdem der Plan des französischen Ministerpräsidenten René Pleven zur Gründung einer Europa-Armee gescheitert ist, muss der Kontinent sicherheitspolitisch autonomer werden. Es wird zwar auch künftig nicht ohne transatlantischen Beistand gehen. Aber darauf verlassen kann man sich nicht mehr.

«Europa wird im Moment stark unterschätzt», hat Europarat-Generalsekretär Alain Berset kürzlich im Interview mit dieser Zeitung gesagt. Tatsächlich gibt es Hinweise, dass den Ankündigungen für einmal Taten folgen. Neben der Dynamik aus London, Paris und Warschau kommt dem nächsten deutschen Kanzler Friedrich Merz eine Schlüsselrolle zu. Ihm ist zuzutrauen, den sicherheitspolitischen Schulterschluss und die Unterstützung der Ukraine konsequenter zu vollziehen als sein ewig zaudernder Vorgänger, dessen Einflüsterer einen naiven Pazifismus nie abgelegt haben.

Mittendrin in diesem sicherheitspolitischen Aufbruch steht die Schweiz, beschäftigt mit hausgemachten Problemen. Während Frankreichs Präsident Macron erklärt, angesichts der Weltlage wäre es «Wahnsinn, bloss Zuschauer zu bleiben», gibt sich Bern zurückhaltend. Bundespräsidentin Keller-Sutter meinte am Freitag, Lautstärke sei kein Gradmesser für die Qualität der Aussenpolitik.

Das ist zweifellos richtig. Die Schweiz wusste zwar genau, auf welcher Seite sie im Kalten Krieg und danach stand – aber das Bekenntnis zur Neutralität blieb stets wichtiger als ein klarer Positionsbezug. Diese Strategie war während Jahrzehnten erfolgreich. Angesichts der Verschiebungen im europäischen Sicherheitsgefüge ist sie nun aber infrage gestellt. Denn wir haben kein Ticket gelöst, das uns ewiges Verschontsein garantiert.

Wenn die regelbasierte Ordnung der Machtpolitik weicht, werden Allianzen mit verlässlichen Partnern wichtiger. Darum muss sich die Schweiz verstärkt in die neue Dynamik in unserem Sicherheitsumfeld einbringen. Die Kooperation mit der Nato oder einer neuen EU-Verteidigungsunion sollte intensiviert werden. Unser Land könnte sich dabei am Modell von Schweden und Finnland orientieren, wie es diese bündnisfreien Staaten vor ihrem Nato-Beitritt praktizierten. Weder würden so Befugnisse abgetreten noch Aufgaben delegiert. Und es geht nicht wie beim Abkommen mit der EU um Rechtsübernahme und Fragen der Gerichtsbarkeit. Sondern um Absprachen und gemeinsame Übungen – bei der Luftverteidigung, der Cyberabwehr, aber auch bei den Bodentruppen. Ziel muss eine funktionierende Interoperabilität mit den Systemen und Strukturen der Nachbarn sein, die über den aktuellen Stand hinausgeht.

Ähnliches gilt für die Rüstungspolitik. Als Rüstungsverkäufer haben wir uns in Europa unmöglich gemacht – wer soll noch in einem Land Waffen kaufen, die man im Ernstfall nicht einem Partnerland zur Selbstverteidigung weitergeben kann? Entsprechend düster sind die Aussichten für die eigene Rüstungsindustrie. Und auch Waffenkäufe in den USA sind zunehmend risikobehaftet. Also sollten wir uns auch hier stärker an Europa orientieren.

Dass der Nationalrat mehr internationale Kooperation fordert, ist erfreulich. Doch es braucht mehr: eine breite Debatte über die künftige Verteidigungspolitik. Die sicherheitspolitische Strategie 2025, die der Bundesrat erarbeiten lässt, und die Neutralitätsinitiative der SVP liefern Gelegenheit dafür. Ignorieren lässt sich die neue Bedrohungslage jedenfalls nicht. Moskau gibt dem Westen indirekt die Schuld an Hunderttausenden getöteten oder verwundeten Soldaten und überzieht eine ganze Generation mit expansiver Grossmacht-Propaganda. An der Ostflanke Europas wird unabhängig von einem Waffenstillstand auf absehbare Zeit keine Ruhe einkehren.

Auch das transatlantische Verhältnis wird kaum mehr so stabil wie früher werden, egal, wie lange Trump und seine Leute an der Macht sind. Was aber unverändert bleibt, ist unsere Lage mitten in Europa. Man muss diesen Kontinent nicht verklären. Aber wir sollten unsere Sicherheitspolitik endlich stärker mit jener Allianz verweben, die uns umgibt. Denn für die Verteidigung unseres Landes wird sie im Ernstfall unerlässlich sein.

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