Daniel Foppa, München
«Nun geht es an die vorderste Front. Zu harten, schweren Kämpfen», schreibt der Schütze Johann M. am 23. Dezember 1941 an seine Ehefrau. Der 30-jährige Österreicher steht als Wehrmachtssoldat vor Moskau und nimmt an den verlustreichen Kämpfen um die sowjetische Hauptstadt teil. Wochenlang vernimmt die Ehefrau kein Lebenszeichen mehr, bis ihr am 20. Februar 1942 ein Hauptmann meldet, dass sich ihr Mann nach «gewaltigem Dauerangriff der Russen» nicht mehr bei seiner Kompanie eingefunden habe. Seither gilt Johann M. als verschollen. Kameraden vermuten, dass er in russische Gefangenschaft geraten ist. Bis zum heutigen Tag fehlt jede Spur von ihm.
«Für viele Angehörige ist die Ungewissheit, dieser Schwebezustand zwischen Hoffnung und Verzweiflung, am schwersten zu ertragen», erklärt Klaus Mittermaier. Der 63-jährige Bayer leitet seit 19 Jahren den Suchdienst des Deutschen Roten Kreuzes in München und ist mit unzähligen menschlichen Tragödien konfrontiert worden. Mittermaier berichtet von einer Mutter, die sich im Verlauf der Jahre in gegen tausend Briefen über den an der Ostfront verschollenen Sohn erkundigt hat. Er legt Schreiben vor, die die Not der Angehörigen belegen. «Bitte helfen Sie, das Schicksal meines Bruders aufzuklären. Ich komme sonst nicht zur Ruhe. Das Leben ist bald vorbei», schreibt der 74-jährige Werner N. aus Norddeutschland.
Der Drang nach Gewissheit vor dem nahenden Tod, die Hoffnung auf Informationen aus neu zugänglichen russischen Archiven und die zurzeit intensive mediale Aufbereitung des Geschehenen führen dazu, dass noch heute pro Tag etwa zwanzig neue Suchaufträge das Deutsche Rote Kreuz erreichen. Dieses kann für seine detektivische Arbeit auf 75 Mitarbeiter und ein Karteiarchiv zurückgreifen, das weltweit seinesgleichen sucht: In der ersten Etage eines unscheinbaren Bürohauses in München Giesing lagern in kilometerlangen Regalen 53 Millionen Karteikarten, die sich mit dem Schicksal von etwa 30 Millionen Vermissten aus dem Zweiten Weltkrieg befassen. Ein Blick auf die vergilbten, mit einem Foto versehenen Karten lässt Einzelschicksale erahnen, die angesichts der Masse der Gesuchten sogleich wieder der Anonymität verfallen.
Recht auf Gewissheit
Begonnen hat die Arbeit des Suchdienstes während der letzten Kriegstage im Frühjahr 1945, als zwei deutsche Offiziere in Flensburg ohne offiziellen Auftrag ein Flüchtlingshilfswerk gründen. Nach der Kapitulation Deutschlands wird die Arbeit mit Unterbrechungen weitergeführt. Die Skepsis der Besatzungsmächte ist gross, dass über den Suchdienst eine unerwünschte Bestandesaufnahme der zerschlagenen Wehrmacht entsteht. Mit der Gründung der Bundesrepublik im Jahr 1949 intensiviert der Suchdienst seine Arbeit, die er fortan im Auftrag der Bundesregierung ausübt. Systematisch werden ehemalige Wehrmachtsangehörige befragt, an offiziellen Gebäuden hängen Plakate von Findelkindern, und Radiostationen strahlen noch bis in die neunziger Jahre Suchmeldungen aus.
Erschwert wird die Arbeit des Suchdienstes durch die Teilung Deutschlands, die erneut Familien auseinander reisst. Für Mittermaier ist deshalb klar: «Der Zweite Weltkrieg endete für mich erst mit der Wiedervereinigung.» Überhaupt bezeichnet der Diplomgeograph die Nachkriegsjahre als «wirre Zeit» und verweist auf das persönliche Leid vieler Betroffener, das bis heute nachwirkt. Mittermaier nimmt den Zweiten Weltkrieg aufgrund seiner Arbeit vor allem aus der Opferperspektive wahr. Fragen nach Täterschaft und Schuld sind dabei kein Thema. «Wir sind keine Richter», sagt Mittermaier. Welches Mass an Schuld eine gesuchte Person auf sich geladen habe, sei für seine Arbeit unerheblich. «Meiner Ansicht nach gibt es für die Angehörigen ein Recht auf Gewissheit», erklärt der Bayer. Er mache sich wohl seine Gedanken, sei aber den Richtlinien des Roten Kreuzes gemäss neutral und möchte sich politisch nicht äussern.
«Nicht immer ist unsere Arbeit beendet, wenn wir eine gesuchte Person ausfindig gemacht haben», sagt Mittermaier. Aus Datenschutzgründen muss die betreffende Person ihr Einverständnis in die Weitergabe der Adresse an die suchende Person geben. Wenn sich zum Beispiel ehemalige Wehrmachtsoldaten weigern, in Kontakt mit einem während einer Affäre gezeugten Kind zu treten, ist Fingerspitzengefühl gefragt. Der Suchdienst bietet sich dann als Relaisstation zwischen Vater und Kind an, leitet Briefe zwischen Familienmitgliedern weiter und wahrt doch die Anonymität.
So schreibt Elvira H. aus K.: «Ich habe den Brief an meinen Bruder offen gelassen. Sie können ihn in einen neutralen Umschlag stecken, damit ich nicht durch einen Postrücklauf unberechtigterweise seine Adresse erfahre. Weil ich nicht weiss, in welchem Land er lebt, lege ich fünf Euro für das Porto bei, wovon Sie den Rest behalten können» – berührende Dokumente, geschrieben von zumeist zittriger Hand. Kommt es schliesslich zur Wiedervereinigung von Angehörigen, überlässt der Suchdienst die weitere Entwicklung den betroffenen Personen. Beim emotionalen Moment des Wiedersehens sind keine Vertreter aus München dabei. «Sobald unsere Arbeit erfüllt ist, ziehen wir uns zurück», sagt Mittermaier.
Der Suchdienst-Leiter zieht einen Ordner mit Dankesbriefen der letzten Jahre hervor. Sie alle loben die Arbeit des Dienstes, auch wenn es in der Mehrzahl der Fälle nicht mehr zur tatsächlichen Wiedervereinigung gekommen ist. Vielfach kann die Münchner Stelle bloss noch Auskunft geben über die tatsächliche oder vermutete Grabstelle des Verschollenen. Doch auch dies bedeutet den Angehörigen viel: «Für die Klärung des Schicksals meines Schwiegervaters danken wir Ihnen herzlich. Es ist beruhigend zu wissen, dass er nicht spurlos verschwunden ist», schreibt Werner S. aus K.; und Marianne W. aus M. betont: «Die Gewissheit, dass mein Vater in einem ordentlichen Grab beigesetzt wurde, erleichtert mich sehr.»
Ende der Hoffnung
Oft ist jedoch nicht einmal eine Grabstätte auszumachen. In solchen Fällen erstellen Sachverständige militärhistorische Gutachten, in denen sie detailliert schildern, wo und unter welchen Umständen die Einheit des Verschollenen am Tag seines Verschwindens gekämpft hat. Die Gutachten enden mit dem Hinweis, dass der Gesuchte «mit hoher Wahrscheinlichkeit» bei den beschriebenen Kämpfen gefallen sei. Ein solches Dokument, das erst nach Sichtung aller möglichen Quellen erstellt wird, bedeutet für viele Angehörige das definitive Ende ihrer Hoffnungen.
Dankbare Briefe zeugen jedoch von der Erleichterung über das Ende der quälenden Ungewissheit. So auch im Fall des vor Moskau vermissten Schützen Johann M. Das letzte Dokument in seiner Akte ist ein Brief, den seine Tochter im Mai 2003 dem Suchdienst geschrieben hat: «Sehr ergriffen las ich den Bericht, und noch nie war mir mein Vater so nah. Ich bin erleichtert, weil ich Gewissheit habe, dass er nicht in russische Gefangenschaft musste, jedoch erschüttert, weil er für diesen unsinnigen Horrorkrieg sein junges Leben lassen musste. Kein einziges Mal durfte ich meinem Vater ein liebes Lächeln schenken und ihm die Hand reichen. Ich hätte dies so gerne getan.»
Bild: Deutsches Rotes Kreuz