Daniel Foppa
Herr Fischer, ein Hitzerekord schlägt den anderen – doch die Umfragewerte der Grünen sind in Deutschland wie in der Schweiz schlecht. Was macht Ihre Partei falsch?
Joschka Fischer: Die Grünen sind stark im Durchkämpfen von Agenda-Setting; sie können ein Thema wie die Klimakrise ins öffentliche Bewusstsein rufen. Aber sie haben wenig Erfahrung in der Mehrheitsbildung. Die Grünen sind eine Minderheitenpartei, die das Leben in der Opposition gewohnt ist.
Immerhin sitzen sie in der deutschen Regierung.
Ich begrüsse das, aber ich bedauere es zutiefst, dass die Unterstützung für die Ampel-Koalition so eingebrochen ist. Dass die Angstkampagnen der Gegner so erfolgreich waren. Denn wir stehen vor einer der grössten Transformationen der Menschheitsgeschichte: weg von der kohlenstoffbasierten Industriegesellschaft hin zu einer klimaneutralen.
Mit dem Entscheid, die Atomkraftwerke vom Netz zu nehmen, verzögert Deutschland diese Transformation.
Der Entscheid gegen den Atomstrom ist richtig. Die Argumente pro Atomkraft werden spätestens beim nächsten schweren Störfall genauso zusammenschrumpfen wie bei Fukushima. Es war nach dem russischen Gaslieferstopp richtig, die Laufzeit der deutschen Atomkraftwerke zu verlängern. Und man kann darüber streiten, ob es nicht klüger gewesen wäre, diese Kraftwerke noch länger in Betrieb zu lassen. Aber der Grundsatzentscheid für die Transformation ist gefällt. Das ist eine riesige Aufgabe, die tief in unseren Alltag eingreift.
Liegt nicht genau da das Problem der Grünen – dass etwa das Heizungsgesetz ihres Ministers Robert Habeck als übergriffig empfunden wird, weil es den Bürgern vorschreibt, wie sie ihr privates Haus zu beheizen haben?
Das Heizungsgesetz hatte eine technokratische Schlagseite, einverstanden. Man hätte mehr auf die Bevölkerung Rücksicht nehmen sollen, gerade was Heizungen in Altbauten betrifft. Denn Sie müssen verhindern, dass die Bevölkerung transformationsskeptisch wird.
Aber die Grünen verstärken diese Veränderungsmüdigkeit doch: Statt sich auf die Ökologie zu konzentrieren, machen sie immer mehr Identitätspolitik, die ausserhalb des akademisch-urbanen Milieus kaum verstanden wird.
Wer am meisten auf die Identitätsproblematik setzt, sind die rechten Parteien – in der Schweiz etwa die SVP. Da geht es um Fragen der Zugehörigkeit und des richtigen Verhaltens. Das ganze Getue um Gender-Befindlichkeiten ist doch kein echtes Problem. Die Sprache wandelt sich. Aber ich habe mich deswegen noch nie in meiner Identität bedroht gefühlt. Und ich mache nicht gerade den Eindruck, dass ich, was die Sprache betrifft, der Genderfreundlichste wäre.
Ferda Ataman, die von den Grünen unterstützte Bundesbeauftragte für Antidiskriminierung, ortet überall Diskriminierung und will diese mit Gesetzesverschärfungen bekämpfen. Ihre Bestrebungen tragen Züge staatlich verordneter Kurse in Political Correctness.
Bei mir hat noch keiner angeklopft und gesagt: «Du musst in einen Benimmkurs.» Ich bin in meinen 75 Jahren nicht von den Grünen erzogen worden, aber von den grossen Parteien. Die haben die Schulen geprägt, das war Erziehung. Es gibt heute sicher Übertreibungen, aber man muss doch schauen, wo das wirkliche Problem liegt: dass Sie in Deutschland mit einer türkischen oder arabischen Familiengeschichte und einem entsprechenden Aussehen mehr Probleme haben, als wenn Sie blond und blauäugig sind. Ich nehme an, das ist in der Schweiz nicht viel anders. Das ist das eigentliche Problem.
Ein wirkliches Problem ist die wirtschaftliche Situation Deutschlands.
Wir sind das Land, das am meisten von der Globalisierung profitiert hat. Das führte zu einer Abhängigkeit von China und von scheinbar billiger Energie aus Russland. Was jetzt ziemlich zu schaffen macht, ist die Schwäche des chinesischen Marktes. Das heisst nicht, dass wir nicht unsere Hausaufgaben machen müssen.
Man hat den Eindruck, diese Hausaufgaben bestünden neben Budgetkürzungen vor allem in der Neuverschuldung.
Deutschland muss jetzt investieren, denn wir leben in einer völlig anderen Welt. Wir haben Krieg in Europa. Wir werden enorme Summen in die Verteidigung investieren müssen. Wir haben die Digitalisierung, die gewaltige Investitionen erfordert. Und wir haben den Klimaschutz, der noch grössere Investitionen erfordert. Ich bin ja nicht dafür, die Sozialausgaben zu erhöhen. Aber es müssen jetzt Investitionen kommen.
Das führt zu einer Vielzahl von Schattenhaushalten: Sondervermögen für die Pandemie, die Bundeswehr, die Klimapolitik. Und all diese Finanztöpfe fallen nicht unter die Schuldenbremse.
Diese Schattenhaushalte sind nichts Neues. Die deutsche Einheit wurde weitgehend so finanziert. Wir sind stark genug, wirtschaftlich und vom fiskalischen Aufkommen her, dass wir uns das leisten können. Ich bin kein Anhänger der Schuldenbremse. Schauen Sie doch mal, wohin uns das Sparen gebracht hat, schauen Sie sich mal die verrottete Infrastruktur der Deutschen Bahn an. Sie kriegen diese ganzen Zukunftsaufgaben mit einer Politik des Sparens nicht bewältigt. Und wenn ich immer höre, die kommenden Generationen müssten es zurückzahlen, dann sage ich: Ja, das stimmt. Aber die bekommen auch etwas dafür.
Die Grünen hätten gerne noch mehr investiert und weniger gespart. Jetzt müssten sie als Regierungspartei den Haushaltsentwurf aber eigentlich mittragen. Sie mussten als erster grüner Vizekanzler ähnliche Kompromisse eingehen. Was ist der Preis der Macht?
Wenn Sie in eine Bundesregierung eintreten, ob als Partei oder als Person, werden Sie mit der Realität konfrontiert. Das ist der Preis der Macht. Umso fester müssen Sie in Ihren Grundüberzeugungen, müssen Sie in Ihrem Wertefundament sein.
Und das geht zusammen, oder verschiebt sich dann das Wertefundament?
Es geht zusammen. Sie können in Situationen kommen, wo es persönlich verdammt hart wird. Der Kosovo-Krieg war alles andere als einfach. Der Ukraine-Krieg und die Waffenlieferungen sind alles andere als einfach. Die Notwendigkeit der Aufrüstung, um glaubhaft abschrecken zu können, ist alles andere als einfach. Sie können immer wieder in Situationen kommen, wo Werte und Realität in Konflikt kommen.
Deswegen fremdeln auch die Schweizer Grünen mit der Macht. Liegt das in der Natur Ihrer Partei?
Ein Stück weit schon. Wobei das ja auch nichts Schlechtes ist. Die Grünen sind eine Partei, die gegründet wurde mit einem starken idealistischen Überschuss. Sonst können Sie all die Anfeindungen gar nicht durchhalten. Es gehört zu den Grünen.
Und dieser idealistische Überschuss kippt dann ins moralisch Bevormundende.
Das tut es manchmal, ja. Aber das ist bei allen Parteien der Fall, das ist auch bei den Kirchen der Fall. Mir selbst war es immer ein Anliegen, nicht erzieherisch unterwegs zu sein. Ich habe mit Argumenten gefochten. Auch wenn es nicht immer einfach war.
Viel Kritik mussten Sie zum Beispiel 1999 einstecken. Als Sie als Aussenminister am Grünen-Parteitag für den Bundeswehreinsatz in Kosovo warben, wurde Ihnen ein Farbbeutel an den Kopf geworfen. Nun aber setzen sich die deutschen Grünen zuvorderst für Waffenlieferungen in die Ukraine ein. Was ist geschehen?
Mich hat der Wandel der Grünen auch erstaunt. Für eine pazifistische Partei und vor dem Hintergrund der deutschen Geschichte war das keine Kleinigkeit. Ich selbst bin seit dem Völkermord von Srebrenica 1995 der Meinung: Wir müssen solchen Verbrechen mit Waffengewalt Einhalt gebieten. Gleichzeitig dachte ich: Wenn wir nicht mehr in der Regierung sind, setzt sich bei den Grünen wieder der pazifistische Flügel durch. Aber es kam anders.
Weshalb?
Die Partei hat eine Entwicklung durchgemacht und aus den Diskussionen der 1990er Jahre gelernt. Die Grünen hatten zudem über Jahrzehnte starken Kontakt zu Bürgerrechtsbewegungen im Ostblock, zu Memorial in der Sowjetunion oder zu Solidarność in Polen. Sie sind seit je werteverpflichtete Idealisten. Darum auch die Unterstützung für den Freiheitskampf der Ukraine. Ich habe diese Haltung immer geteilt. Das hat mich auch nie in die Situation gebracht, dass ich Putin vertraut hätte.
Im Gegensatz zu Gerhard Schröder. Sie kennen ihn sehr gut, können Sie uns Schröders Russlandfreundlichkeit erklären?
Ich habe mit dem Mann in der Regierung gut zusammengearbeitet, sieben Jahre lang. Seine aktuelle Haltung verstehe ich nicht. Ich kann es Ihnen nicht erklären, und ich will es auch nicht erklären.
Schröder ist kein Einzelfall. Viele linke Deutsche kritisieren die Unterstützung der Ukraine, jüngst etwa Günter Verheugen, der unter Ihnen im Auswärtigen Amt Karriere machte. Wie erklären Sie sich das?
Sie müssen die deutsche Geschichte verstehen. Der Bruch am 8. Mai 1945, die Schwierigkeit, mit diesem Datum umzugehen, führte von einer militaristischen Orientierung hin zu einer pazifistischen – in Ost und West, nebenbei bemerkt. Wobei die DDR weniger Probleme hatte, an sehr unsägliche deutsche Traditionen anzuknüpfen. Aber in der Bevölkerung war dieser Pazifismus eine Konsequenz aus dem Debakel im 20. Jahrhundert. Zwei Weltkriege, zweimal nach der Weltherrschaft gegriffen, ein furchtbares Desaster angerichtet, auch moralisch, humanitär. Danach galt: Nie wieder! Das heisst ein Pazifismus, der auch auf der deutschen Rechten zu Hause war. Doch diese Haltung endete am 24. Februar 2022, als Russland die Ukraine angriff, endgültig.
Die deutsche Vision von Pazifismus ist an der Realität gescheitert.
Faktisch ja. Man kann ein Land wie die Bundesrepublik nicht regieren mit einer idealistischen Position. Und man kann keine reale Aussenpolitik, keine reale Geopolitik machen auf pazifistischer Grundlage. Wer das bestreitet, stand nie in der politischen Verantwortung. Aber es bleibt richtig und wichtig, dass der Pazifismus als Wert, als Verpflichtung zur Gewaltlosigkeit in unserer Gesellschaft und in unserer Politik erhalten bleibt.
Welchen Stellenwert kann eine solche Vision noch haben in der Realpolitik?
Ohne Vision einer besseren Zukunft werden Sie kein guter Realpolitiker. Sie brauchen ein Wertefundament. Sie brauchen auch einen utopischen Überschuss, eine Vorstellungskraft, wie es besser werden könnte. Die Welt wird nie perfekt sein. Umso mehr wird der Auftrag, sie besser zu machen, nicht vergehen. Darum gehört für mich zu guter Realpolitik nicht nur ein knallharter Realismus, sondern auch ein sehr starkes Wertefundament.
Wie beurteilen Sie das Verhalten der deutschen Regierung angesichts des Ukraine-Kriegs?
Olaf Scholz hat mit seiner «Zeitenwende»-Rede einen Schritt vollbracht, den ich ihm nicht zugetraut hätte. Ich sass vor dem Fernseher, hörte mir seine Rede an und dachte, ich höre nicht richtig. Das wäre so, wie wenn Christoph Blocher verkünden würde, man müsse die Neutralität aufgeben. Undenkbar. Scholz ist ein sozialdemokratischer Kanzler, der noch vor kurzem an der russischen Nord-Stream-Pipeline festgehalten hat und gegen Waffenlieferungen war. Und der hält so eine Rede. Aber es war bitter notwendig und historisch richtig.
Sie selbst sagen, man könne nicht hoch genug einschätzen, was für eine Zeitenwende der Ukraine-Krieg sei.
Der Angriff Russlands auf die Ukraine ist mehr als eine Wende, er ist ein Bruch. Es ist der Versuch Russlands, dass Grenzen wieder durch Machtfragen entschieden werden. Und eine Absage an die Idee, dass es auf dem europäischen Kontinent keinen Krieg mehr geben soll. Wenn diese Idee wieder aufgegeben werden sollte, würde uns das als Europäer endgültig erledigen.
Was ist denn die adäquate Antwort Europas auf diesen Krieg?
Die adäquate Antwort ist: Putin darf nicht gewinnen, die Ukraine muss gewinnen. Und dafür werden wir viel investieren müssen. Sie merken es ja auch an dem Unverständnis gegenüber der Schweizer Haltung, nicht zu Waffenlieferungen beizutragen. Nicht einmal indirekt. Wobei man offensichtlich weniger Probleme damit hat, mit russischen Oligarchen und Gazprom zusammenzuarbeiten. Aber das ist eine Frage, die in der Schweiz diskutiert und entschieden werden muss.
Gibt es auch Grenzen für eine bedingungslose Unterstützung der Ukraine? Die Geländegewinne der ukrainischen Armee sind gering, der Blutzoll der jungen Soldatinnen und Soldaten ist schrecklich.
Dieser Blutzoll ist furchtbar. Übrigens auch bei den jungen Russen. Es ist der Schrecken des Krieges. Aber die Konsequenz kann nicht sein, dass der Brutalere siegt. Es geht um die Freiheit, es geht um die Unabhängigkeit. Hätten die spanischen Republikaner die Waffen strecken sollen, als Franco putschte? Nein. Ich war immer dafür, jemanden, der für seine Freiheit und Unabhängigkeit kämpft, zu unterstützen.
Dann ist ein Frieden zum Preis von Gebietsabtretungen aus Ihrer Sicht ausgeschlossen?
Das ist eine Entscheidung, die nicht wir zu treffen haben, sondern die Ukraine. Aber selbst wenn es eines Tages einen Verhandlungsfrieden gibt oder einen Waffenstillstand, dann wird für uns Europäer die Bedrohung bleiben. Russen und Europäer teilen denselben Kontinent und haben diametral unterschiedliche Erwartungen. In Russland herrscht die Haltung vor: Russland muss Weltmacht sein – oder es wird nicht sein. Dazu braucht es die Ukraine und andere postsowjetische Gebiete. Europa kann das nicht akzeptieren. Wir leben im 21. Jahrhundert, die Welt ist eine andere geworden, eine multipolare Welt mit einer Rivalität von Grossmächten. Wenn wir Europäer unsere eigene Zukunft gestalten und nach unseren Grundsätzen leben wollen, dann werden wir das nur gemeinsam erreichen, aber nicht mehr getrennt.
Wird das je möglich sein mit Russland?
Nein. Mit einem Russland, das weiter am 19. Jahrhundert festhält, wird das nicht möglich sein. Und deswegen werden wir Europa in eine Situation militärischer Stärke bringen müssen, wo wir glaubhaft uns selbst verteidigen können. Es braucht zum Beispiel einen Schritt hin zu einer gemeinsamen europäischen Luftverteidigung. Sie können heute nicht mehr sagen: «Hey, cool down, das ist eine theoretische Gefahr.» Wir haben es erlebt und erleben es täglich in der Ukraine, wie wichtig Luftverteidigung ist. Das gilt auch für andere Elemente der Abschreckung, daran führt kein Weg vorbei. Nicht weil ich das will, sondern weil uns demonstriert wurde, dass wir es brauchen mit diesem Nachbarn. Und wir werden es dauerhaft brauchen.
Joschka Fischer
Der 1948 als Sohn von Ungarndeutschen in Gerabronn geborene Joschka Fischer ist ein grünes Urgestein. Nach Jahren im militanten Flügel der 68er Bewegung trat Fischer 1982 den Grünen bei und wurde ein Jahr später in den Bundestag gewählt. 1985 wurde er in Hessen der erste grüne Minister auf Landesebene. Bei seiner Vereidigung trug Fischer weisse Turnschuhe – damals eine gewaltige Provokation. Im Laufe der Jahre wurde er zum energischen Vertreter des realpolitischen Flügels seiner Partei. 1998 berief ihn Gerhard Schröder als Aussenminister und Vizekanzler in die erste rot-grüne Bundesregierung. Nach der verlorenen Bundestagswahl von 2005 zog sich Fischer zunehmend aus der Tagespolitik zurück. Heute ist er als Berater und Redner tätig.