Daniel Foppa
Am 19. Juli 2004 gegen 8 Uhr abends klingelt es an der Wohnungstür von Stefano A.* in Uster. Der italienisch-schweizerische Doppelbürger kocht eben mit zwei seiner vier Kinder Nachtessen. Durch das Guckloch sieht er eine blonde Frau. Als er die Tür öffnet, wird er plötzlich von maskierten Polizisten zu Boden gerissen und überwältigt. Ein Beamter erklärt Stefano A., er sei verhaftet wegen Verdachts auf Mitgliedschaft in einer kriminellen Organisation. Der 47-Jährige leistet keinen Widerstand, wird abgeführt – und verbringt die nächsten drei Jahre in Untersuchungshaft.
Ins Rollen gebracht wurde das Verfahren durch Aussagen eines reumütigen Mafioso, eines sogenannten Pentito. Der später wegen Mordes verurteilte Mann kannte Stefano A. aus der Jugendzeit in Mesoraca, einem Dorf in Kalabrien. Stefano A. wächst dort auf und macht eine Lehre als Maschinenmechaniker. 1973 reist er seinem Vater in die Schweiz nach, heiratet eine Schweizerin und wird 1996 eingebürgert. Zunächst arbeitet er auf dem Bau, danach eröffnet er in Lengnau AG ein Restaurant – und handelt mit Kokain. 1997 wird Stefano A. wegen Handels von 1,8 Kilogramm Kokain in Lugano zu fünfeinhalb Jahren Gefängnis verurteilt. Er sagt dazu: «Ich habe einen Fehler gemacht, und ich habe dafür bezahlt. Das ist richtig so.»
Reuiger Mafioso als Hauptzeuge
2000 wird Stefano A. entlassen. Er baut sich eine Existenz als Wirt eines italienischen Restaurants in Winterthur auf. Zudem ist er beteiligt an einem Lokal, das er mit dem Italiener Ugo G. auf den Kanaren betreibt. Die beiden Männer haben sich im Gefängnis kennen gelernt.
Währenddessen braut sich in Italien Unheil zusammen. Laut dem Pentito aus Mesoraca ist Stefano A. der Kopf einer Mafiabande. Der Mann wirft ihm vor, mit Kokain und Waffen zu handeln. Die Antimafiabehörde in Rom gelangt 2002 an die Schweiz, und Bundesanwalt Valentin Roschacher nimmt den Fall auf. Leitender Ermittler wird Bundesstaatsanwalt Sergio Mastroianni. Der damals 38-Jährige sieht die Chance, dank eines grossen Mafiafalls Karriere zu machen. Als Vorbilder dienen ihm die ehemalige Bundesanwältin Carla Del Ponte und der frühere Tessiner Staatsanwalt Paolo Bernasconi, die mit spektakulären Mafiaprozessen international Beachtung fanden. Entsprechend fährt auch Mastroianni ein: Er nimmt 50 Verdächtige ins Visier und lässt gegen 37 Personen ermitteln. Als Hauptverdächtiger gilt Stefano A. Mit seiner verbüssten Gefängnisstrafe hat er am meisten auf dem Kerbholz.Stefano A. wird überwacht, sein Telefon abgehört. Doch für eine Verhaftung reichen die Indizien nicht aus. 2004 wird die Bundesanwaltschaft auf Zürcher Ermittlungen aufmerksam. Es geht um zwei Finanzgesellschaften, deren Inhaber sich nach Italien abgesetzt hat und die Firmen in Konkurs gehen liess. Anleger fühlen sich geprellt und machen Schadensersatz geltend. Stefano A. kennt den Inhaber, und sein Bekannter Ugo G. arbeitete für die Firmen. Obwohl aus Sicht der Zürcher Behörden keine Anhaltspunkte für das Waschen von Mafiageld vorliegen, führt die Bundesanwaltschaft eine Untersuchung wegen Geldwäscherei. Aus ihrer Sicht spielt dabei auch Stefano A. eine Rolle.
Trotz der Ermittlungen haben die Behörden immer noch zu wenig in der Hand, um Stefano A. zu verhaften. Da entscheidet sich die Bundesanwaltschaft 2004, einen V-Mann einzusetzen. Wie bereits in der Affäre Ramos/Holenweger versucht Bundesanwalt Roschacher damit, einen Verdächtigen zu einer strafbaren Handlung anzustiften.
Der V-Mann ist ein deutscher Polizist. Er geht Stefano A. nicht direkt an, sondern versucht, bei einem seiner Bekannten ein Kilogramm Kokain zu kaufen. Der Mann geht auf die Anfrage ein und besorgt sich die Drogen bei einem Dealer. Stefano A. sagt, sein Bekannter habe ihn gar nicht erst gefragt, ob er ihm Kokain beschaffen könne. Mit dem V-Mann habe er nie Kontakt gehabt. Auch der V-Mann wird später aussagen, er sei Stefano A. nicht begegnet. Die Bundesanwaltschaft befindet jedoch, sie habe nun genug Beweise, um zuzuschlagen. Stefano A. wird verhaftet. Mit ihm wandern fünf weitere Verdächtige in Untersuchungshaft.
23 Stunden pro Tag in der Zelle
Von Beginn weg beteuert Stefano A. seine Unschuld. 23 Stunden pro Tag ist er in seiner Zelle eingeschlossen. Er vertreibt sich die Zeit mit Gymnastik, liest viel, lernt malen. Immer wieder wird die Untersuchungshaft verlängert, während die anderen Verdächtigen nach und nach entlassen werden. Vergeblich wehrt sich Stefano A. mithilfe seines Anwalts dagegen, ohne Urteil jahrelang in Haft gehalten zu werden. Schliesslich tritt er in einen 17-tägigen Hungerstreik. Zum Schluss verweigert er auch die Wassereinnahme und muss notfallmässig in das Universitätsspital Zürich verlegt werden. Bundesstaatsanwalt Mastroianni ruft eilends den Verteidiger. Dieser schafft es, den noch 50 Kilogramm schweren Stefano A. zur Wasser- und Nahrungsaufnahme zu bewegen. «Ich dachte, ich hätte eine Leiche vor mir», beschreibt der Anwalt den Zustand, in dem er seinen Mandanten angetroffen hat.
2007 wird Stefano A. gegen eine Kaution von 50 000 Franken freigelassen. Er muss sich während der nächsten zwei Jahre zweimal pro Woche auf dem Polizeiposten melden und darf das Land nicht verlassen. Finanziell ist er ruiniert. Sein Bruder hat die Kaution geleistet, die ganze Familie zahlt Anwaltskosten. Weil das Verfahren weiterläuft, kann Stefano A. mit seinem Namen praktisch keinen Miet- oder Kaufvertrag mehr unterschreiben. Freunde wenden sich ab, die Ehe wird geschieden. Der «Blick» druckt sein Bild mit vollem Namen ab und stellt einen Bezug her zu Mafiamorden in Deutschland. «Nach Massaker in Duisburg: Schweizer Mafia-Verdächtiger will Pizzeria eröffnen», titelt das Blatt. Stefano A. wird fortan noch mehr gemieden, seine Kinder müssen sich in der Schule und im Lehrbetrieb erklären.
Zu diesem Zeitpunkt haben die Ermittlungen bereits unüberblickbare Dimensionen angenommen. Die Strafverfolger füllten 756 Ordner und Kisten mit Akten, führten 630 Verhöre durch und zeichneten 36 000 Telefongespräche auf. Zu Verzögerungen führt das inzwischen wieder abgeschaffte Verfahren, dass neben der Bundesanwaltschaft ein unabhängiger Untersuchungsrichter ermittelt. Fünf Jahre lang liegt der Fall beim Untersuchungsrichter.
Derweil ist Erwin Beyeler Bundesanwalt geworden. Er möchte vermeiden, dass ihn dasselbe Schicksal wie seinen Vorgänger Valentin Roschacher ereilt, der nach mehreren Flops zurücktreten musste. Beyeler setzt alles daran, dass das Verfahren gegen Stefano A. ein Erfolg wird. Er reist nach Rom und verspricht dem obersten Mafiafahnder Piero Grasso schnellere Rechtshilfe. Gleichzeitig zeigt sich Michael Perler, Chef der Bundeskriminalpolizei, öffentlich besorgt über die Ausbreitung der kalabresischen Mafia im Tessin. Wenn seine Zweigstelle in Lugano 20 zusätzliche Beamte hätte, «gäbe es auch für sie Arbeit», sagt Perler. Tatsächlich werden jedoch von 2006 bis 2013 in Verfahren der Bundesanwaltschaft schweizweit höchstens 13 Personen wegen organisierter Kriminalität verurteilt.Nach neun Jahren Ermittlung wird im Oktober 2011 die Anklageschrift eingereicht. Bundesstaatsanwalt Mastroianni ist inzwischen nach Bern befördert worden. Den Fall übernommen hat sein Stellvertreter Alfredo Rezzonico. Er wirft Stefano A. und 12 weiteren Männern organisierte Kriminalität, Waffen- und Kokainhandel sowie Geldwäscherei vor. Bundesanwalt Beyeler ist zu diesem Zeitpunkt bereits nicht mehr im Amt: Im Juni 2011 hat das Parlament den glücklos Agierenden abgewählt. Sein Nachfolger wird Michael Lauber. Er übernimmt den Fall, der in der Presse inzwischen als «Grösster Mafia-Fall der Schweiz» betitelt wird. Und bald zu einer der grössten Schlappen in der Geschichte der Bundesanwaltschaft führen sollte.
Polizei passt Protokoll an
Am 28. Februar 2012 fällt das Bundesstrafgericht einen spektakulären Entscheid: Die Anklageschrift wird zurückgewiesen. Die Richter sprechen von «systemischen und systematischen Mängeln». Die Verteidigerrechte seien nicht respektiert worden, indem etwa bei der Einvernahme von Belastungszeugen die Verteidiger der Beschuldigten nicht teilnehmen konnten. Die Beschuldigten oder ihre Anwälte hätten keine Gelegenheit gehabt, auf belastende Aussagen zu reagieren. Dadurch seien die Befragungsprotokolle «zum grossen Teil unbrauchbar», hält das Gericht fest und betont: «Diese Lücken sind so gross, dass man sich fragen muss, ob nicht die ganze Untersuchung auf einem problematischen Fundament steht.»
Die Bundesanwaltschaft ist perplex. Vier Jahre zuvor habe die Beschwerdekammer des Gerichts erklärt, dass die Konfrontationseinvernahmen an der Hauptverhandlung nachgeholt werden können, sagt sie. Nun aber muss Bundesanwalt Lauber sofort neue Einvernahmen anordnen. Stefano A. wird aufgeboten. Er führt inzwischen in der Deutschschweiz ein Restaurant und muss jeweils für die tagelangen Befragungen nach Lugano reisen. Den Arbeitsausfall entschädigt ihm niemand.
Bei den Befragungen werden erstaunliche Ermittlungsmethoden der italienischen Behörden zutage gefördert, die den ganzen Fall ins Rollen gebracht hatten. So verfasste ein italienischer Polizist einen Rapport zur Befragung zweier Pentiti, die Stefano A. beschuldigten. Der Polizist schrieb: «Diese Aussagen müssen noch entschärft werden, um die anderen Aussagen desselben F. glaubwürdig zu machen.» Stefano A. gibt zu Protokoll, dass solche Passagen belegten, wie «Beweise manipuliert wurden, damit die Ermittler zum gewünschten Ergebnis kamen». Die Bundesanwaltschaft will sich im aktuellen Verfahrensstadium nicht zum Vorwurf der Beweismanipulation äussern.In Lugano werden zudem Zeugen befragt, die offensichtlich Analphabeten sind. Als sie nach der Einvernahme das Protokoll unterschreiben sollen, können sie das Geschriebene nicht lesen. Die Protokolle müssen ihnen vorgelesen werden. «Diese Leute haben in den ersten Einvernahmen Protokolle unterschrieben, die sie gar nicht verstanden haben», sagt der Anwalt von Stefano A.
«Widerspruch zur Rechtslehre»
Im Juli 2013 stellt Bundesstaatsanwalt Rezzonico die überarbeitete Anklageschrift dem Bundesstrafgericht zu. Sechs Monate später folgt die nächste Ohrfeige für die Ermittler: Die Richter weisen die Anklage erneut zurück. In ihrem Entscheid vom 23. Januar 2014 zerpflücken sie die Anklageschrift nach allen Regeln der Kunst. Das Gericht weist darauf hin, dass ein Grossteil der Abhörprotokolle unbrauchbar sei. So sei weder ersichtlich, ob es sich um Übersetzungen oder um Abschriften handle, noch gehe hervor, wer die Protokolle angefertigt habe: «All dies steht im Widerspruch zur Rechtslehre.» Dies sei umso gravierender, als dass mehrere Beschuldigte den Inhalt der Protokolle vehement bestritten. Zudem basiere die Anklage in wesentlichen Teilen auf Abhörprotokollen: 251 der 756 Ordner und Kisten, die das Gericht erhalten hat, beinhalten Abhörprotokolle und Filmaufnahmen.
Bundesanwalt Lauber muss nun entscheiden, wie es weitergeht. Als die Anklage das erste Mal zurückgewiesen worden sei, habe er alle geforderten Verbesserungen nachgeliefert. «Ich wollte den Fall nicht noch weiter verzögern», sagt Lauber. Die Verfahrensdauer habe für ihn oberste Priorität: «Aber wir können sie nicht alleine beeinflussen.» Erschwerend kommt für die Bundesanwaltschaft hinzu, dass durch neue Gesetze und Bundesgerichtsurteile die Ansprüche an Telefonüberwachungen und verdeckte Ermittlungen verschärft wurden. Gemäss Lauber hat der Fall bisher Kosten von rund 1,8 Millionen Franken verursacht – die Löhne der Polizisten, Ermittler und Richter nicht eingerechnet.
Freisprüche in Italien
Die italienische Justiz hat derweil alle Verdächtigen freigesprochen, die von Pentiti beschuldigt wurden, zusammen mit Stefano A. der Mafia angehört zu haben. Die Aussagen der Pentiti wurden als unglaubwürdig taxiert. Auch Stefano A. wurde vor Ober- und vor Appellationsgericht freigesprochen. Das Kassationsgericht wies den Fall jedoch wegen eines Verfahrensfehlers zurück. Der Anwalt von Stefano A. vermutet, dass Schweizer Ermittler ihre italienischen Kollegen gebeten haben, den Fall möglichst lange offenzulassen: «Die Ermittlungen wurden von Italien angestossen. Kommen die Italiener zum Schluss, dass nichts dran ist, stehen sie gegenüber der Schweiz schlecht da.» Bundesanwalt Lauber stellt entschieden in Abrede, auf Italien eingewirkt zu haben.
Für Stefano A. ist klar: «Die Bundesanwaltschaft hat sich verrannt. Aber sie hat so viel in den Fall investiert, dass sie es nicht zugeben kann.» Er steht täglich in seinem Restaurant und versucht, ein möglichst normales Leben zu führen. Der Bundesanwaltschaft muss er weiterhin jederzeit zur Verfügung stehen. Stefano A. sagt: «Im Namendes Gesetzes werden mir meine Freiheitsrechte aberkannt – obwohl kein Urteil vorliegt.» Bundesanwalt Lauber will noch vor dem Sommer entscheiden, wie es mit dem Fall weitergehen soll. Über zwölf Jahre werden dann vergangen sein, seit das Verfahren seinen Anfang nahm.