DANIEL FOPPA

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Im fernen Westen

Chinesische Eltern schicken ihre Kinder vermehrt im Ausland zur Schule. Auch in der Schweiz steigt die Zahl der Schüler aus Fernost – die hier Fähigkeiten erlernen, die in der Heimat nicht nur gefragt sind.
Tages-Anzeiger, 27. Juni 2018

Daniel Foppa, Disentis

Den Sternenhimmel hatte er noch nie gesehen. Bis er ihn auf der Fahrt ins Bündner Oberland zum ersten Mal erblickte. Der 18-jährige Shichao Zhang stammt aus Peking und besucht seit drei Jahren die Klosterschule Disentis. Der Kontrast zwischen der smoggeplagten 21-Millionen-Stadt und dem Bergdorf könnte nicht grösser sein. Gross zu kümmern scheint dies den jungen Mann nicht. «Es ist schön hier, aber wir sind zum Lernen da», sagt Zhang.

Zusammen mit seinem Klassenkameraden Xingyu Bai sitzt er an einem Tisch, den das Rektorat mit einem chinesischen und einem Schweizer Wimpel geschmückt hat. Die Schule ist geübt im Umgang mit den Medien, die jungen Chinesen sind es auch. Bloss zweimal im Jahr fliegen Zhang und Bai nach Hause. Ansonsten wird der Kontakt zur Familie und zu Freunden über Onlinekanäle aufrechterhalten. «Man lebt damit, es geht gut», antwortet Bai auf die Frage, ob ihm die Familie nicht fehle. Und Zhang sagt: «Wir können uns jeweils mehr als die Klassenkameraden auf die Ferien freuen, weil wir nur selten zu Hause sind.» Sätze, die einem Buch für positives Denken entstammen könnten.

Auf Werbetour in China

Insgesamt vier Schülerinnen und Schüler aus China besuchen derzeit das Gymnasium Disentis, das als eine der ersten Schweizer Mittelschulen aktiv in China Schüler angeworben hat. Inzwischen ist daraus ein Trend geworden: Studierten 2013 noch 308 chinesische Schüler an Schweizer Mittelschulen, waren es laut Angaben des Bundes 2017 bereits 432.

In Disentis hatte ein nach China ausgewanderter Absolvent der Klosterschule dem damaligen Rektor empfohlen, chinesische Schüler aufzunehmen. Die Idee kam zur rechten Zeit, denn die Mittelschule kämpft gegen sinkende Schülerzahlen: Die Abwanderung aus den Bergtälern und die schwindende Bereitschaft von Eltern aus dem Unterland, ihr Kind in ein entferntes Internat zu schicken, setzen ihr zu. Also ging der Rektor auf Werbetour nach China und sah sich zu seinem Erstaunen Sälen voller interessierter Eltern gegenüber. Zwar wussten die wenigsten, wo die Schweiz liegt, von Disentis hatte noch nie jemand etwas gehört. Aber über das westliche Bildungssystem waren sie gut im Bild.

«Chinesische Schüler erhalten mit der Matura das Eintrittsticket für die ETH, die HSG St. Gallen und Hochschulen im Ausland», sagt Rektor Roman Walker. Deshalb seien die Eltern bereit, das zumeist einzige Kind 8000 Kilometer entfernt in die Schule zu schicken. «In China hängt alles davon ab, an welcher Universität man studiert», erklärt Walker. So entscheidet der jedes Jahr in ganz China am selben Tag durchgeführte Uni-Aufnahmetest über das künftige Leben der Schulabgänger. Wer bei der sogenannten Gaokao (Grosse Prüfung) schlecht abschneidet, kann sich nur an Mittelklasse-Universitäten bewerben. Damit bleibt der Weg zu gut bezahlten Jobs versperrt. Rund 10 Millionen Jugendliche sind Anfang Juni zu dieser Prüfung angetreten, für die sie jahrelang geschuftet und ihre Kindheit geopfert hatten.

Die meisten wollen zurück

Auch vor diesem Hintergrund erklärt sich die steigende Anzahl chinesischer Schüler, die an westliche Schulen drängen. Laut dem chinesischen Bildungsministerium verliessen 2017 erstmals über 600 000 chinesische Schüler und Studenten ihr Land, um im Ausland zu studieren. Gleichzeitig kehrte die Mehrheit der Schüler und Studenten nach Beendigung des Studiums wieder zurück nach China: 480 900 waren es letztes Jahr.

Vom Schulbesuch im Ausland erhoffen sich die Chinesen insbesondere Fortschritte beim kritischen Denken oder bei der Entwicklung von Kreativität und Persönlichkeit. «Das sind keine primären Lernziele im chinesischen Bildungssystem», sagt der Disentiser Rektor Walker. Im globalen Wettbewerb, den China dominieren möchte, sind diese Fähigkeiten jedoch unabdingbar. Die Ausbildung im Ausland wird darum wichtiger. Erschwinglich ist sie zwar nur für Angehörige der Oberschicht, doch auch dies ist bei einem 1,4-Milliarden-Volk eine enorme Zahl. In Disentis zahlen ausländische Schüler für ein Schuljahr mit Kost und Logis 65 000 Franken, Privatschulen in der Schweiz sind noch teurer.

«Wir wollen noch mehr chinesische Schüler animieren, in die Schweiz zu kommen», sagt Ru Xi. Die Mitarbeiterin der chinesischen Botschaft ist zuständig für Bildungsfragen. Ihr Büro befindet sich in einem unauffälligen Wohnhaus in Gümligen bei Bern, nur die vergitterten Fenster lassen den Aussenposten der chinesischen Vertretung erahnen. Keine Flagge, nirgends ein Hoheitszeichen: Man ist sichtlich um Diskretion bemüht.

«Die Qualität des Bildungssystems, die Internationalität und die Sicherheit machen die Schweiz attraktiv für chinesische Schüler», sagt Xi. Vor allem mit den beiden letzten Punkten hebe sich die Schweiz von den Nachbarstaaten ab. «Zwar zieht es die meisten chinesischen Schüler und Studenten nach wie vor in die USA und nach Grossbritannien. Aber die Schweiz holt auf», sagt Xi.

Tatsächlich bearbeiten neben Disentis inzwischen weitere Schweizer Schulen systematisch den chinesischen Bildungsmarkt. So hat das Hochalpine Institut Ftan GR letztes Jahr eine Gesellschaft mit schweizerisch-chinesischen Investoren gegründet, um aktiv Schüler in China anzuwerben. «Unser Ziel sind 30 bis 40 asiatische Schüler», sagt Verwaltungsratspräsident Jon Peer.

Derzeit lernen zwei chinesische Schüler im Unterengadin. Ftan stand 2015 kurz vor der Schliessung, nun sollen die Schüler aus Fernost eine neue Ära einleiten. «Die Chinesen wollen ihre Jugend europäisieren, das ist unsere Chance», sagt Peer. Während in Disentis die Unterrichtssprache Deutsch ist, führt Ftan auf das nächste Schuljahr hin eine zweisprachige Matura Deutsch-Englisch ein. Vor kurzem hat sie die entsprechende Bewilligung der Bündner Regierung erhalten.

Quoten für Chinesen in Zuoz

Auch am Lyceum Alpinum in Zuoz ist die Nachfrage aus China stark, wie Rektor Christoph Wittmer sagt. Um eine Durchmischung der Herkunftsländer zu gewähren, hat Zuoz für Schüler aus Asien eine Quote von zehn Prozent eingeführt. Die Quote wird jedes Jahr erreicht, ein Eintrittstest bestimmt darüber, welche Schüler aufgenommen werden. «Derzeit studieren rund 30 Asiaten bei uns, der Grossteil von ihnen Chinesen», sagt Wittmer. Deren Eltern schätzten insbesondere, dass ihre Kinder auch im kritischen Denken und der Selbstreflexion geschult würden.

Die Lausanner Privatschule Ecole Lémania hat auf die gestiegene Nachfrage gar mit einer Neugründung reagiert: Letzten Herbst hat sie in Altdorf UR ein Internat eröffnet, an dem praktisch nur chinesische Schüler unterrichtet werden. «Das Interesse aus China ist enorm», sagt Schulleiter Sébastien Morard. Zwar stehe das Internat Schülern aus allen Nationen offen, aber dank der Kooperation mit einer Highschool in Shanghai liege der Fokus auf China. Von den 20 Schülern stammen 18 aus China. Das Internat will seinen Schülern in Zukunft das International Baccalaureate (IB) anbieten, das je nach erreichter Punktzahl weltweit zum Universitätsstudium berechtigt.

Hierarchischer Gehorsam

Schulleiter Morard lobt die Leistungsbereitschaft der Schüler aus China. «Wichtig ist uns aber auch, das unabhängige Denken zu fördern», sagt er wie alle anderen befragten Schulleiter. Fragt sich, ob dies im Herkunftsland der Schüler auch geschätzt wird. «Solche im Ausland erlernte Fähigkeiten können in der Heimat zu Konflikten führen. Chinesische Vorgesetzte legen Wert auf hierarchischen Gehorsam», sagt Bertram Lang vom Mercator Institute for China Studies in Berlin. Zwar wolle sich China zur innovativen Informations- und Dienstleistungsgesellschaft entwickeln, wozu es Kreativität und freies Denken brauche. «Was dies aber für Folgen für das Pekinger Regime hat, ist offen», sagt Lang.

Dem stimmt sogar die Vertreterin der chinesischen Botschaft zu: «Man kann noch nicht sagen, was der Einfluss der aus dem Ausland zurückkehrenden Schüler und Studenten sein wird», sagt Ru Xi. Und betont, es gebe Wichtigeres, als über Politik zu reden. Tatsächlich sind auch die chinesischen Schüler in Disentis mässig interessiert, mit einem Medienvertreter über die Menschenrechtssituation in ihrer Heimat zu diskutieren. Ein nachvollziehbarer Entscheid, schliessen doch Shichao Zhang und Xingyu Bai nicht aus, nach dem Studium an einer Schweizer Universität wieder nach China zurückzukehren.

«Wir sind eine christlich-humanistisch geprägte Schule», sagt Rektor Roman Walker. Dieses Bildungsideal werde niemandem aufgezwungen, aber allen Schülern während ihrer Zeit in Disentis vermittelt. Wie viel davon beim einzelnen Absolventen haften bleibe, sei individuell verschieden. Egal, woher die Schülerin oder der Schüler stamme.

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