Daniel Foppa, Berlin
Wolf Biermann erscheint gut gelaunt zum Interview im Deutschen Historischen Museum in Berlin. In wenigen Tagen eröffnet hier eine Ausstellung zum Liedermacher, der mit seinem Leben wie kaum ein anderer Künstler für die deutsche Nachkriegsgeschichte steht. Der 86-Jährige scheint produktiv wie je, schreibt Gedichte über den Krieg in der Ukraine und das eigene Leben. Tags zuvor war er in Hamburg im Studio, um neue Lieder einzuspielen. In den folgenden eineinhalb Stunden zeigt sich Biermann im rasanten Wechsel von seiner humorvollen, nachdenklichen und zornigen Seite.
Herr Biermann, Sie haben als Kind den Zweiten Weltkrieg nur knapp überlebt: Ihr Vater wurde in Auschwitz ermordet, Ihre Mutter musste sich mit Ihnen durch den Feuersturm während der Bombardierung von Hamburg schlagen. Das war im Juli 1943. Wie präsent ist diese Kindheitserinnerung?
Diese Bombennächte haben sich eingebrannt in mein Gedächtnis wie sonst nichts. Ich erinnere mich an jede Farbe, jedes Gesicht, jede Szene und jeden Geruch, alles.
Können Sie das beschreiben?
Wenn eine ganze Stadt brennt, passiert eine apokalyptische Physik. Im Zentrum des riesigen Feuers entsteht ein Vakuum. Und in dieses Vakuum strömt Luft rein von allen Seiten. Wenn eine Strasse in Richtung dieses Vakuums steht, dann rauscht ein gewaltiger Luftstrom durch sie, und die Strasse wird zu einer Düse. Steht eine Strasse quer zum Feuer, ist dort alles ruhig. Jeder, der aus dem Feuer rauskommen will, muss sich gegen diesen Luftstrom, der alles mit sich reisst – brennende Balken, Ziegel –, durchkämpfen. Können Sie sich das vorstellen?
Physikalisch ja, aber . . .
Ja, ja, natürlich, das können Sie als Schweizer nicht wissen, weil Ihr Land lange keinen Krieg erlebt hat. Meine Mutter schaffte es mit mir durchs tödliche Getümmel. Sie sprang in einen Kanal und schwamm mit mir auf dem Rücken ins Offene. Ich war sechseinhalb, und sie erklärte mir, dass die alliierten Piloten über uns unsere Freunde sind: Diese bösen Nazis, die unseren lieben Papa ermordet haben, die kriegen jetzt die Bomben auf den Kopf, damit sie den Krieg verlieren. Es war nur so unpraktisch, dass die Bomben uns selber auch auf dem Kopf fielen. Das nennt man eine komplizierte Interessenlage.
80 Jahre später herrscht wieder Krieg in Europa. Was macht das mit Ihnen?
Ich beobachte mich sehr kritisch. Das ist auch mein Beruf. Ich möchte nicht hysterisch werden und sagen, nur weil ich aus dem Bombenfeuer komme, empfinde ich diesen Krieg viel tiefer. Leider glaube ich aber nicht, dass ich übertreibe, wenn ich sage: Die Katastrophen sind jetzt schlimmer als damals. Nicht weil Putin schlimmer ist als Hitler oder Stalin. Sondern weil die Menschheit inzwischen über ein anderes Vernichtungspotenzial verfügt. Und wenn Putin in Not ist, wird er nicht klammheimlich desertieren in den Selbstmord wie sein Kollege Hitler.
Das ist ein viel gehörtes Argument: Putin hat die Bombe, deshalb sollte der Westen zurückhaltend sein und keine Waffen in die Ukraine liefern.
Leute, die so reden, sind eine Kriegsgefahr. Meine jüdische Hamburger Familie ist nach Minsk deportiert und dort in die Grube geschossen worden. Kein Einziger hat überlebt. Ich als sogenannter «Halbjude» wäre gemäss dem Plan der Nazis erst 1947 an der Reihe gewesen, liquidiert zu werden. Also: Wir können dieses Gespräch hier nur deshalb führen, weil die Westalliierten und die Russen Nazideutschland niedergekämpft haben, mit allen Waffen, die sie hatten. Deshalb braucht auch die Ukraine Waffen, um sich zu wehren.
Es irritiert, wenn der kritische Liedermacher Biermann für Waffenlieferungen ist. Es scheint, als würde die Öffentlichkeit von Ihnen eine andere Rolle erwarten.
Ich kann nicht den Pazifisten spielen. Wenn ich ein Pazifist wäre, wäre ich ein Heuchler! Ich kann überhaupt nur Piep oder Pop oder richtig oder falsch sagen, weil Menschen ihr Leben aufs Spiel gesetzt haben, damit der kleine Biermann überleben konnte. Diese Soldaten haben unsere Freiheit in Deutschland erkämpft.
Jetzt herrscht in Europa wieder eine solche Situation. Kommt da Resignation auf?
Nein, bei mir nicht. Resignieren könnte ich erst, wenn ich tot bin. Und unter uns gesagt: nicht mal dann.
Es scheint, dass sich die Geschichte wiederholt.
Die Geschichte wiederholt sich nicht, sie explodiert – und zwar anders, als man denkt. Das ganze Koordinatensystem verschiebt sich. Deshalb kann man auch nichts lernen aus der Geschichte. Natürlich lernt man, alte Fehler zu vermeiden. Aber nur, um neue Fehler zu machen.
Was sagen Sie zum Argument, Deutschland müsse aufgrund seiner kriegerischen Vergangenheit besonders zurückhaltend sein mit Waffenlieferungen?
Ich sehe das genau umgekehrt. Die Heil-Hitler-Deutschen haben die Ukraine und Russland überfallen und massakriert. Deshalb muss Deutschland jetzt erst recht den Ukrainern beistehen gegen dieses totalitäre, völkermörderische Regime von Putin. Pazifismus ist hier eine im Grunde menschenfeindliche Haltung, die so schön menschlich aussieht.
Es gibt ehrlich überzeugte Pazifisten.
Und die muss man achten. Albert Einstein war ein ehrlich überzeugter Pazifist. Unter dem Eindruck der realen Hitler-Bedrohung hat er seine Meinung radikal korrigiert.
«Nur, wer sich ändert, bleibt sich treu», heisst ein berühmtes Lied von Ihnen.
Wenn ich der moralischen Substanz meines Herzens treu bleiben will, muss ich alles immer wieder neu überdenken und mich tapfer entscheiden. Und was tapfer konkret heisst in einem geschichtlichen Kontext, in einem Koordinatensystem, das sich immer in neue Richtungen bewegt, das ist die Mühe des Alltags, das sind die chronischen Mühen jeder Demokratie.
Deutschland hat sich nach langem Zögern entschieden, Waffen in die Ukraine zu liefern. Die Schweiz hingegen unterbindet sogar die indirekte Waffenlieferung.
Das mag menschlich klug und vernünftig aussehen, ist meiner Meinung nach aber nur eine elitäre Form der Feigheit. Im Streit der Welt befreit uns die komplizierteste Kompliziertheit der Konflikte nicht davon, tapfer Ja oder Nein zu sagen.
Die Schweiz ist mit ihrer strikten Neutralität bisher sehr gut gefahren und kann sich so als Vermittlerin in Konflikten anbieten.
Ich bin nicht der moralische Lehrer für die prekäre Idylle in den Alpen. Mir hat nach meiner Ausbürgerung aus der DDR mal ein Freund in Köln gesagt: «Weisst du Wolf, man muss nicht durch jede Jauchegrube schwimmen, um zu wissen, was Scheisse ist.» Was im Ukraine-Krieg richtig oder falsch ist, kann man auch ohne Kriegserfahrung begreifen.
Sie haben nach Ihrer Ausbürgerung aus der DDR geschrieben: «Tief bewegt sein ist was Schönes, besser ist: sich selbst bewegen!»
Das habe ich den linken Vögeln der linksalternaiven Szene in Westdeutschland vorgesungen. Ich bin auf das Problem gestossen durch ein Modewort. Mich fragte im Osten ein Hamburger Journalist in einem Interview: «Herr Biermann, sind Sie engagiert?» Ich wollte schon brav wie ein Schaf mit Jaaa antworten. Aber der Wolf ist ein Wolf. Also sagte ich: Nein.
Was ist falsch an engagiert?
Mein Vater hat als Kommunist, als Arbeiter und Jude 1936 die Waffenlieferungen der Nazis an die spanischen Faschisten sabotiert. Statt seinen kleinen Hintern zu retten und nach Dänemark zu fliehen mit seiner schwangeren Frau. Als ich drei Monate alt war, wurde er verhaftet und später von den Nazis ermordet. War mein Vater engagiert? Nein. Churchill hat sich auch nicht engagiert gegen Hitler, er hat gekämpft!
Dann wehren Sie sich auch gegen die Bezeichnung als «engagierter Liedermacher».
Engagieren tu auch ich mich immer mal wieder für Dinge, die mich nur nebenbei was angehen. Aus solchem Engagement hole ich aber nicht die Kraft, die notwendig ist, um mich mit übermächtigen Schweinehunden in einen existenziellen Streit einzulassen. Diesen Unterschied, kann man jetzt wunderbar studieren im Streit um die Frage: Wie verhalten wir uns zum Ukraine-Krieg? Im Grunde verteidigen wir uns selbst, unsere eigene Freiheit, wenn wir der Ukraine beistehen. Und wir verraten vor allem uns selbst, wenn wir es nicht tun.
Ihr Weg des Widerstands war der des Liedermachers. «Meine stärkste Waffe im Streit der Welt sind die Verse», schreiben Sie. Was konnten Sie mit dieser Waffe erreichen?
Ein starkes Lied ist eine wirkungsvolle Waffe. Das wissen und fürchten die Mächtigen. Deshalb kann es solche Dichter wie mich in härteren Diktaturen als der DDR kaum geben, die werden rechtzeitig totgeschlagen. Mein Glück war, dass es zwei deutsche Staaten gab, dass Ost und West sich gegenseitig genauestens beobachteten. Die DDR-Diktatur hatte eine panische Angst vor dieser Öffentlichkeit. Wissen Sie, was komisch ist? Wenn eine Diktatur besiegt ist, dann wimmelt es plötzlich von Widerstandskämpfern, die sich schmücken mit Heldentaten, die sie nicht gewagt haben. Da gilt der sarkastische Slogan: «Wenige waren wir, und viele sind übriggeblieben.» Dazu gibt es ein neues Lied von mir: «Was du erinnerst, warst du nicht.»
Sie sind 1953 freiwillig aus Hamburg in die DDR gezogen und haben dort immer mehr Widerstand geleistet. Das Regime reagierte dann 1965 mit einem Auftritts- und Publikationsverbot. Wieso sind Sie trotzdem im Osten geblieben?
Weil ich das Gefühl hatte, gebraucht zu werden. Es ist sehr wichtig,
die richtigen Freunde zu finden. Aber genauso wichtig ist: die richtigen Feinde zu haben. Auch die muss man sich redlich verdienen.
Sie wurden permanent überwacht von der Stasi, die einen Massnahmenplan zu Ihrer «Zersetzung» entworfen hatte, darunter falsche ärztliche Behandlung, perfide Verleumdungen. Bei Ihrem Fahrzeug wurden die Bremsen beschädigt. Wie überlebt man in einem solchen System?
Ich hatte Angst. Aber ich habe mir immer die Frage gestellt: Habe ich die Angst, oder hat die Angst mich? Es gab auch Situationen, da hatte die Angst mich.
Wann war das?
Als 1968 der Prager Frühling von den Sowjets niedergeschlagen wurde, hatte mich die Angst, dass sie mich im Rausch ihres Sieges erst mal einfach totschlagen. In der Nacht des Einmarsches klingelte um drei Uhr früh mein Telefon. Ein Mann sagte: «Wolf, steh sofort auf, mach das Radio an!» – und legte auf. Das war ein ehemaliger Freund, mit dem ich zerfreundet war, weil er zur Stasi gegangen ist. Ich versuchte panisch, Manuskripte zu verbrennen. Dann habe ich mir meinen «Biermann-Bart» abgeschnitten, mich als alte Frau mit Kopftuch verkleidet und bin durch die Hintertür rausgeschlichen, um mich bei Freunden zu verstecken.
Sie bezeichnen diese Episode in Ihrer Autobiografie als «Dilettantenkrimi».
Ich ärgerte mich, dass ich so unvorbereitet war und überrumpelt wurde von der Situation. Ich wusste nicht, ob die Stasi längst alles unter Kontrolle hat und sich schieflacht darüber, wie das Grossmaul Biermann sich nun den Bart abschneidet und sich verkriechen will. Durch die Stasi-Akten weiss ich aber: Die für mich zuständigen Genossen hatten alles verpennt.
Eine Konstante in Ihrem Leben ist, dass Sie stets zwischen den Fronten standen und gegen die Feinde der Freiheit gekämpft haben. Wo sehen Sie die Freiheit heute am meisten bedroht?
Im Moment bedroht vom Überdruss der westlichen Demokratien an der Demokratie. Die selbstzufriedene Unzufriedenheit mit den Widrigkeiten in jeder Demokratie, das ist die grosse Bedrohung. Eine echte Demokratie wird aber leider immer unvollkommen sein, sie muss geradezu unvollkommen sein. Die Missachtung der Freiheitsrechte hat also zwei Quellen: Die chronischen Mühen der Demokratie und der bequeme Stumpfsinn in der Diktatur, in der man ja für nichts verantwortlich ist. Die Schwierigkeiten in einer unvollkommenen Demokratie finde ich viel besser als die Bequemlichkeiten in einer vollkommenen Diktatur.
Um diese Bequemlichkeiten ist ein seltsamer Kult entstanden, etwa die Ostalgie, die Sehnsucht nach den geordneten Verhältnissen und Annehmlichkeiten in der DDR.
Das ist ein lehrreiches Beispiel dafür, dass Fabriken und Häuser schneller aufgebaut werden können als kaputtgemachte Menschen. Das dürfen wir eben nicht ignorieren: Die Deutschen in der DDR hatten zwei Diktaturen hintereinander.
Aber jetzt ist eine neue Generation da.
Klaro, aber solche Verletzungen werden vererbt. Sie perpetuieren sich über Generationen, und sei es als dialektische Volte in die grauenhafte Gegenschiefheit. Und so ist es verlockend, dass diese tiefen Diktatur-Wunden der Demokratie angelastet werden. So wuchert eine Sehnsucht nach der guten alten schlechten Zeit, die aus einem jahrzehntelang eingravierten Obrigkeitsdenken entspringt.
Und wohin führt eine solche Sehnsucht?
Man landet bequem bei der AfD, bei der Linken und bei den Putin-Verstehern, die nichts verstehen. Am Ende geht es darum, ob man die Chancen und Gefahren der Freiheit aushält.
Sie haben das mal beschrieben mit «Es geht darum, lebendig zu leben, mit begründeter Verzweiflung und begründeter Hoffnung».
Ja, das ist der ewig lebendige Widerspruch, den man Melancholie nennt. Damit meine ich nicht irgendeine faule Traurigkeit. Sondern dass ich die Kraft habe, auszuhalten, dass man also tief verzweifelt ist und zugleich voller Hoffnung. Es geht darum, seine menschliche Würde zu bewahren, indem man diese beiden Gegensätze aushält, ohne in faule Verzweiflung oder falsches Hoffen zu kippen. Wer das schafft, ist mein Komplize. Solche Menschen mag ich, ich respektiere und bewundere sie. Und ich könnte ohne deren Beispiel nicht überleben.
Wolf Biermann
Wolf Biermann wurde 1936 in Hamburg geboren. Sein Vater leistete als Jude und Kommunist Widerstand gegen die Nazis und wurde 1943 in Auschwitz ermordet. Als 16-Jähriger siedelte Biermann in die DDR über, wo er erste Lieder und Gedichte veröffentlichte und zum Regimekritiker wurde. Seine Kritik führte 1965 zu einem Auftritts- und Publikationsverbot. 1976 wurde er ausgebürgert, was in Ost- und Westdeutschland zu einer Protestwelle führte. In der Bundesrepublik engagierte sich Biermann bei den Grünen und in der Friedensbewegung, von der er sich heute wieder distanziert hat. Seine Gedichtbände gehören zu den erfolgreichsten der deutschen Nachkriegsliteratur.