Daniel Foppa, Genf
Er war 16, als er in den Krieg zog. Am 13. November 1936 schulterte der Tessiner Eolo Morenzoni seine Schultasche, in die er heimlich ein Hemd und ein paar Taschentücher gepackt hatte. Zu Hause in Lugano hinterliess er einen Abschiedsbrief: «Liebe Eltern, Ich muss dem Drang meines Herzens folgen. Ich kann nicht anders, ich muss nach Spanien gehen, um zu kämpfen, um den ganzen Mut und alles, was Ihr in meinem Herzen erweckt habt, in den Dienst der Sache zu stellen.»
Zusammen mit einem Freund fährt Morenzoni nach Basel, wo er sich mit vier weiteren Schweizern trifft. In der Nacht schleicht die Gruppe über die Grenze nach Frankreich und erreicht via Lyon Perpignan an der spanischen Grenze. Tausende Freiwillige sammeln sich hier, um gegen den Faschismus in Spanien zu kämpfen. Am 17. und 18 Juli hatten rechtsgerichtete Generäle gegen die demokratisch gewählte Regierung der Republik geputscht. Der Militäraufstand weitet sich rasch zum internationalen Konflikt aus; Hitler und Mussolini unterstützen die Putschisten, die Sowjetunion und Antifaschisten aus allen Ländern die republikanische Seite. Der Bürgerkrieg endet 1939 mit dem Sieg der Militärs unter General Franco.
Morenzonis Reise hätte um ein Haar bereits in Perpignan geendet. Bei der Musterung fragt ihn ein Offizier nach seinem Alter. «Einundzwanzig Jahre», gibt der Tessiner vor. Denn er weiss, dass Minderjährige nicht zum Kriegsdienst zugelassen sind. Der Offizier glaubt ihm nicht, doch Morenzoni hat für diesen Fall vorgesorgt. Ein italienischer Freund erklärt dem Offizier, Morenzoni sei der Sohn eines italienischen Antifaschisten, der im Gefängnis sitze. Die List gelingt, und der Tessiner kann als Mitglied der Internationalen Brigaden die Grenze nach Spanien überqueren.
Von einer Kugel getroffen
Heute lebt Morenzoni 88-jährig in Genf. Er ist einer von noch fünf Lebenden der 800 Schweizer Spanienkämpfer. Etwa 200 von ihnen fielen im Kampf. «Ich habe viele Freunde sterben sehen», sagt Morenzoni in italienisch gefärbtem Französisch. Er erzählt vom zähen Tessiner Maspoli, der sich bei der Bergung von Verletzten ausgezeichnet hat. Maspoli habe sich immer wieder nachts den feindlichen Gräben genähert, um die eigenen Verwundeten zu bergen. An der Teruelfront traf ihn eine tödliche Kugel. Morenzoni erzählt ohne grosse Emotionen und verzichtet auf Pathos. Auch dann, wenn er von solch unglaublichen Erlebnissen wie von der eigenen Verwundung berichtet.
In der Schlacht von Valsequillo rückt der Tessiner zusammen mit seinem Freund Guggiari vor, als dieser von einer Kugel getroffen wird. Morenzoni kniet neben dem Verwundeten und verbindet ihn. Als er aufstehen will, reisst ihn Guggiari zu Boden. In diesem Moment durchbohrt eine Kugel Morenzonis linke Schulter und Guggiaris Hand. Die beiden können evakuiert werden, und Morenzoni ist nach ein paar Tagen im Spital von Villavieja wieder einsatzbereit.
Nach einer weiteren Verwundung fehlen Morenzoni jedoch die Kräfte für den Fronteinsatz. Trotz seines jungen Alters wird er als Ausbildner eingesetzt. Dabei werden Politkommissare auf ihn aufmerksam. Wie andere Schweizer soll er zur Ausbildung in die Sowjetunion fahren. Der Tessiner verlässt nach eineinhalb Jahren Spanien und fährt nach Lugano, um seine Papiere in Ordnung zu bringen. Dabei fällt er der Kantonspolizei in die Hände, die ihn in Haft setzt. Der noch nicht militärdiensttaugliche Siebzehnjährige – der später 1000 Tage Aktivdienst in der Schweizer Armee leistet – wird von einem Militärgericht wegen «Schwächung der Wehrkraft» zu 43 Tagen Gefängnis verurteilt. Damit kommt er vergleichsweise gut weg. Insgesamt verurteilten Schweizer Militärrichter 420 Spanienkämpfer zu Strafen von 15 Tagen bis zu 4 Jahren, der Schnitt liegt bei 3,8 Monaten.
Die Demokratie verteidigen
Morenzoni hat seinen Einsatz in Spanien nie an die grosse Glocke gehängt: «Ich wollte nicht den alten Kameraden mimen und mir Orden umhängen lassen.» Als ihm 1996 wie allen Spanienkämpfern die spanische Ehrenbürgerschaft angetragen wird, hat ihn das zwar gefreut. Beantragt hat er das Bürgerrecht jedoch nicht. Im Gespräch betont er denn auch, es gehe ihm nicht um seine persönliche Geschichte, sondern um «die Sache».
«Die Sache» ist für den Tessiner gleichbedeutend mit dem Kampf gegen den Faschismus: «Ich bin nach Spanien gefahren, um die demokratischen Werte zu verteidigen». Morenzonis Vater ist ein überzeugter Sozialist, der in Lugano eine kleine Wirtschaft führt. Hier treffen sich in den Dreissigerjahren viele antifaschistische Flüchtlinge aus Italien. Manche von ihnen sind auf der Weiterreise nach Spanien, um sich den Internationalen Brigaden anzuschliessen. Eolo hört den Berichten der Emigranten zu, tritt den jungen Kommunisten bei und veröffentlicht in linken Blättern kurze Artikel. «Es ging darum, Position gegen Mussolini zu beziehen. Der Diktator wollte die italienische Grenze bis an den Gotthard verschieben», sagt der Tessiner.
Morenzonis antifaschistische Überzeugung bleibt dem Schweizer Staatsschutz nicht verborgen. Der erste Eintrag in seiner Fiche trägt das Datum vom 19. 11. 1935: «Schreibt unter ‹Eolo› Artikel im Falce e Martello» – der Observierte ist zu dieser Zeit knapp 15-jährig. Einen Monat später heisst es: «Empfänger v. 8 Expl. ‹La classe operaia contro il fascismo› von G. Dimitrov.» Die Sendung wird zunächst beschlagnahmt und dann freigegeben. Zu Morenzonis Zeit in Spanien heisst es: «Soll sich z. Zt. in spanischen Kriegsdiensten befinden. Soll erst 16 jährig sein.»
Keine Arbeit, keine Wohnung
Nach seiner Gefängnisstrafe wird Morenzoni geächtet, findet weder Arbeit noch Wohnung. Er schlägt sich mit Gelegenheitsjobs durch, betreibt mit seiner Deutschschweizer Ehefrau einen Tabakladen in Lugano, arbeitet als Chauffeur bei der rumänischen Gesandtschaft in Bern und schliesslich 26 Jahre in verschiedenen Positionen bei einem Busunternehmen in Genf.
In all den Jahren wird der Tessiner vom Staatsschutz observiert. In der Fiche ist vermerkt, dass seine Genfer Wohnung zwei Eingänge habe, wie hoch sein aktueller Lohn sei und was für Filme er sich im Kino anschaue. Und dass Morenzoni ein «besonders aggressiver Vertreter der Moskauerrichtung sei». Er glaube nach wie vor an die marxistische Idee, sagt der 88-Jährige. Er hätte jedoch nie gedacht, dass daraus eine derart blutige Diktatur wie in der Sowjetunion entstehen könne. Wenn die menschliche Rasse aber überleben wolle, müsse sie ihre Reichtümer gerechter verteilen.
Der Tessiner erwähnt den Begriff «Gerechtigkeit» während des mehrstündigen Gesprächs in seiner kleinen Genfer Wohnung zwar mehrfach, nicht aber mit Bezug auf seine eigene Biografie. Ihm sei es unterdessen egal, ob er rehabilitiert werde oder nicht. «Mein Gewissen ist rein. Ich habe mein Land nicht verraten», sagt er zu einer möglichen Amnestie der Schweizer Spanienkämpfer (siehe Artikel unten). Jedenfalls würde er heute genauso handeln wie vor über 70 Jahren. Dass er sich nun an die Öffentlichkeit wende, habe einen einzigen Grund: «Man muss die Demokratie verteidigen – mit allen Mitteln. Das sollen die Jungen ruhig wissen.»
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Nach 70 Jahren besteht erstmals Aussicht auf Rehabilitierung
Die Schweiz ist nahezu der einzige Staat, der die Urteile gegen seine Spanienkämpfer bis heute nicht aufgehoben hat – obwohl seit 1938 dafür gekämpft wird.
Kaum sind die ersten Spanienkämpfer 1938 in die Schweiz zurückgekehrt und verurteilt, reicht der Genfer Sozialist Léon Nicole im Nationalrat eine Interpellation ein, in der er vergeblich eine Amnestie fordert. Im gleichen Jahr wird ein Komitee zur Amnestierung der Heimkehrer gegründet, dem Prominente wie der Theologe Leonhard Ragaz und der Schriftsteller Carl Albrecht Loosli angehören. Das Komitee lanciert eine Petition und sammelt 80 000 Unterschriften. Laut dem Historiker Ralph Hug zeigt die beachtliche Zahl die Sympathie breiter Kreise mit Menschen, «die für helvetische Werte wie Freiheit, Demokratie und Unabhängigkeit gekämpft hatten».
Ende 1938 reicht SP-Nationalrat Johannes Huber ein Postulat für eine Amnestie ein. Es wird von 69 Nationalräten unterzeichnet, darunter 25 Bürgerliche. Der Rat überweist den Vorstoss diskussionslos. Ein Jahr später kippt die Stimmung im bürgerlichen Lager jedoch. Eine Kampagne von Rechtskreisen, der Militärjustiz und der NZZ verunglimpft die Spanienkämpfer als «Arm Moskaus». Der Bundesrat lehnt das Postulat ab, die Räte folgen ihm. Die NZZ listet jene Freisinnigen auf, die für die Amnestie gestimmt haben.
Die Schweiz hofiert Franco
Während die Schweiz die heimkehrenden Spanienkämpfer aburteilt, hofiert sie den Putschisten. Als zweiter demokratischer Staat nach Irland anerkennt die Schweiz am 14. Februar 1939 General Franco als Staatsoberhaupt – obwohl der Bürgerkrieg noch im Gang ist. Während der folgenden 40-jährigen Franco-Diktatur geraten die Spanienkämpfer in Vergessenheit. Erst in den Siebzigerjahren verhelfen Richard Dindos Film «Schweizer im Spanischen Bürgerkrieg» und Helmut Zschokkes Buch «Die Schweiz und der Spanische Bürgerkrieg» dem Thema wieder zu Beachtung. Politische Vorstösse zur Rehabilitierung scheitern jedoch erneut.
1986 würdigt mit Otto Stich erstmals ein Regierungsmitglied die Spanienkämpfer. An einer Gedenkfeier hält er fest: «Die Geschichte hat Euch recht gegeben.» Stich setzt mit seiner Erklärung ein Zeichen, und der Bundesrat revidiert langsam seine Haltung. Zwar lehnt er 1989 eine Rehabilitierung erneut ab. Er räumt aber ein, dass «die überwiegende Mehrheit der Spanienkämpfer aus achtenswerten Beweggründen gehandelt» habe.
Bewegung in die Angelegenheit bringt danach Bundesrätin Ruth Dreifuss. Sie bedauert 1994 in einer Rede in Zürich die verweigerte Amnestie und betont: «Für mich besteht kein Zweifel, dass Sie und Ihr historisch notwendiges Engagement heute politisch und moralisch vollständig rehabilitiert sind.» Zwei Jahre später bestätigt der Bundesrat die ehrenwerten Beweggründe der Spanienkämpfer, spricht ihnen den offiziellen Dank der Regierung aus – lehnt aber eine Amnestie weiterhin ab.
1999 reicht SP-Nationalrat Paul Rechsteiner eine weitere Initiative für eine Amnestie ein. SVP-Nationalrat J. Alexander Baumann bezeichnet die Forderung in der Ratsdebatte als «alte klassenkämpferische Zielsetzung», und der Rat lehnt den Vorstoss ab – es ist der elfte seit 1938.
«Es wäre das Allerschönste»
Nachdem acht weitere Jahre vergangen sind, sieht es nun erstmals danach aus, als ob ein Amnestievorstoss Erfolg haben könnte. So stimmte die Rechtskommission des Nationalrats letzten Herbst mit 12 zu 9 einer weiteren Initiative Rechsteiners zu. Am 15. April 2008 folgte die Ständeratskommission und sagte einstimmig Ja. Derzeit wird in der Rechtskommission der grossen Kammer eine Gesetzesvorlage ausgearbeitet. Nehmen die Räte die Initiative an, folgen sie mit erheblicher Verspätung dem Beispiel anderer europäischer Länder: So erliessen Frankreich, Schweden und Dänemark bereits 1938 eine Amnestie für Spanienkämpfer, während die Rückkehrer in Grossbritannien, Irland und den USA feierlich empfangen wurden.
Im Jahr 2000 hatte der Spanienkämpfer Hans Hutter in einem Brief geschrieben: «Von den Spanienfreiwilligen leben noch gegen 20. Kein einziger stellt Ansprüche, aber für jeden von uns wäre es das Allerschönste auf der Welt, die wir in Bälde verlassen werden, wenn der Bund schlicht und einfach erklärt, dass man sich damals getäuscht hat.» Hans Hutter ist 2006 mit 93 Jahren verstorben. (daf)