Daniel Foppa
Es sind Bilder wie aus längst vergangenen Zeiten: Diese Woche starteten Schweizer Kampfjets von einer gesperrten Autobahn aus, um den Verteidigungsfall zu üben. Solche Übungen wurden während des Kalten Kriegs regelmässig durchgeführt, und tatsächlich erinnert die aktuelle Sicherheitslage an die Zeiten vor dem Fall der Mauer: Russland hat sich vom Westen abgekoppelt und treibt die Ausweitung seines Einflussbereichs rücksichtslos voran.
Wladimir Putins Vorgehen weist Parallelen auf zur sowjetischen Niederschlagung der Freiheitsbewegungen in Ungarn 1956 oder der Tschechoslowakei 1968. In der Schweiz reagierte die Bevölkerung jeweils mit Protestaktionen in allen grösseren Städten und der Aufnahme von Zehntausenden Flüchtlingen. Der damalige Bundespräsident Willy Spühler erklärte dem russischen Botschafter: «Die Gefühle des Schweizervolkes sind ganz auf der Seite des tschechischen Volkes» – während dieser die militärische Intervention mit einer angeblichen imperialistischen Verschwörung in Prag rechtfertigte.
So wiederholt sich die Geschichte: Moskau begründet seine «Spezialoperation» in der Ukraine heute mit ähnlich kruden Verschwörungstheorien, und die Solidarität in der Schweiz mit dem angegriffenen Land ist wiederum gross. Und doch zeigen sich Unterschiede.
Symptomatisch dafür stehen die Aussagen, die der Mitte-Ständerat Peter Hegglin diese Woche in der kleinen Kammer gemacht hat. Er verorte sich zwar in der westlichen Welt, wolle aber trotzdem «nicht einseitig Partei für die Ukraine ergreifen und die Russen als alleinigen Aggressor verurteilen», sagte er. Es sei nicht an uns, zu entscheiden, wer Täter und wer Opfer sei. Schliesslich seien wir ja Aussenstehende.
Hegglins Aussagen sind angesichts der russischen Kriegsverbrechen in Butscha und anderswo eine moralische Bankrotterklärung. Dass sie aus der Mitte des politischen Spektrums heraus erfolgen, ist umso bedenklicher. Hier spricht kein AfD-Mann, keine Sahra Wagenknecht. Sondern ein in jeder Beziehung durchschnittlicher Bürgerlicher.
Der Zuger steht mit seiner Sicht der Dinge nicht allein da. Die SVP bezweckt mit ihrer Neutralitätsinitiative dasselbe: Die Unterscheidung zwischen Täter und Opfer würde dadurch obsolet, Sanktionen wie derzeit gegen Russland wären nicht mehr möglich. Auch das Wirtschaftsdepartement fordert, eine «Äquidistanz zwischen den Machtzentren» einzuhalten, und ist deshalb gegen den Beitritt zu einer Task-Force zur Überprüfung der Sanktionen gegen Russland.
Solchen Vorstellungen einer komplett indifferenten Neutralität ist eines gemeinsam: Sie haben nichts mit der tatsächlich gelebten Neutralität seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs zu tun. Während des Kalten Kriegs stand die Schweiz derart klar im Lager des Westens, dass sie aus Sicht der USA als Vorbild für alle anderen neutralen Staaten galt. Dies hat der ETH-Forscher Mauro Mantovani bereits 1999 in einer Studie aufgezeigt. Die Neutralität während des Kalten Kriegs war keineswegs absolut, sondern dezidiert dem Westen zugewandt – von einer «Äquidistanz zwischen den Machtzentren» keine Spur.
Ein Jahr nach dem Fall der Mauer beteiligte sich die Schweiz dann an den Uno-Sanktionen gegen den irakischen Diktator Saddam Hussein, der Kuwait überfallen hatte. Auch hier war die Neutralität nicht absolut, die Schweiz sanktionierte jene Partei, die das Völkerrecht brach. Wie es Russland derzeit in der Ukraine tut.
Der Krieg in Europa hat in der Schweiz eine Neutralitätsdebatte entfacht, die wegen der Abstimmung über die SVP-Initiative weiter an Intensität zunehmend wird. Am lautesten zu Wort melden sich momentan die Anhänger einer absoluten Neutralität. Ein Gegenkonzept ist das von einer Gruppe Intellektueller vorgelegte Manifest für eine Neutralität im 21. Jahrhundert – ein Manifest, das Beachtung verdient, aber wie viele solcher Konzepte daran krankt, dass sie oft nur Gleichgesinnte erreichen.
Und während das Land über einen der grössten Mythen seiner Geschichte diskutiert, richtet es die Ukraine-Konferenz aus. Russland fehlt auf dem Bürgenstock – für Kritiker der Beweis dafür, dass die Schweiz eben nicht mehr als neutraler Vermittler akzeptiert wird. Daraus aber abzuleiten, die Schweiz müsse zu einer rigiden Neutralität übergehen, wäre verfehlt. Die Guten Dienste in Ehren, aber sie dürfen nicht über dem Bekenntnis zum Völkerrecht stehen. Wenn eine Vermittlerrolle bedingt, bei der Verurteilung und Sanktionierung völkerrechtswidriger Angriffskriege abseitszustehen, muss die Schweiz auf diese Vermittlerrolle verzichten.
Es geht in diesen unruhigen Zeiten nicht darum, dass unser Land plötzlich eine aktivistische Aussenpolitik betreibt. Es geht vielmehr darum, dass die Schweiz ihr bisheriges Konzept der Neutralität beibehält. Diese Art von Neutralität steht auf einem Wertefundament und nimmt das Völkerrecht zur Leitlinie, wenn es zwischen Aggressor und Opfer zu unterscheiden gilt. Sie ermöglicht Gute Dienste – aber nicht zu jedem Preis. Der Übergang zu einer in der Verfassung festgehaltenen rigiden Neutralität à la SVP wäre indes eine Abkehr von einem pragmatischen Prinzip, das sich während Jahrzehnten bewährt hat. Und ein unnötiges Risiko in einer Zeit, in der gerade ein Kleinstaat auf eine verstärkte sicherheitspolitische Kooperation mit seinen Partnern setzen muss.
All den Vorstellungen einer komplett indifferenten Neutralität ist eines gemeinsam: Sie haben nichts mit der tatsächlich gelebten Neutralität seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs zu tun.