DANIEL FOPPA

«Es braucht aufgeklärten Glauben»rutishauser

«Es braucht aufgeklärten Glauben»

Christian Rutishauser ist der oberste Schweizer Jesuit. Er sagt, das Christentum solle hierzulande nicht krampfhaft an Privilegien festhalten – sondern eine überzeugende Alternative leben.
Tages-Anzeiger, 13. April 2017

Mit Christian Rutishauser sprach Daniel Foppa

Sie sind eben zurückgekehrt aus Israel, einem Land, das stark unter religiösen Konflikten leidet. Die säkulare Schweiz kennt dieses Problem nicht. Kann man sagen: Je weniger die Religion in einem Staat eine Rolle spielt, desto weniger Probleme gibt es?
Das wäre ein Kurzschluss. Auch in einer säkularen Gesellschaft gibt es ideologische Probleme und weltanschauliche Kämpfe. So wie die Religionen besitzen Politik und Wirtschaft ihre Ambivalenz. Das Zusammenleben in einer Gesellschaft ist an sich konfliktuös. Die Religionen haben einen grossen Beitrag zur Entspannung geleistet, etwa im sozialen Bereich oder bei der Bildung.

Trotzdem wird viel Leid von Personen verursacht, die sich auf eine Religion berufen – derzeit etwa mit dem islamistischen Terror.
Extremformen von Religionen sind eher ein Problem, das die säkulare Welt geschaffen hat. Oft sind wirtschaftliche Gründe die Ursache dafür, dass Menschen extremistisch handeln und dazu eine Religion instrumentalisieren. Der Mensch hat eine religiöse Seite, eine Offenheit zur Transzendenz hin. Wird diese Seite bekämpft oder unterdrückt, verschafft sie sich erst Recht Raum. Extremismus ist eine Art Rückkehr des Verdrängten, eine Religion in verzerrter Form, um in der Terminologie von Sigmund Freud zu sprechen. Es wäre falsch, die Religion auf etwas Vormodernes zu reduzieren und in einen Gegensatz zur Aufklärung zu stellen.

Religion und Aufklärung waren aber jahrhundertelang Gegensätze.
Das ist in der Tat ein konfliktreiches Kapitel. In der Geschichte des Christentums haben Kirchenführer aufklärerische Positionen bekämpft. Dabei ging es zumeist um Machterhalt. Doch in ihrem Kern sind die drei grossen monotheistischen Religionen Aufklärungsbewegungen. Sie haben den Götzendienst überwunden, mit der Bibel und dem Koran die Schrift verbreitet, und sie haben vor allem die Würde des Menschen betont. Davon führt ein direkter Weg zur Erklärung der Menschenrechte und zum Rechtsstaat. Der Philosoph Jürgen Habermas bezeichnet Menschenrechte und Demokratie als unmittelbares Erbe der jüdischen Gerechtigkeitsund der christlichen Liebesethik.

Nun könnte man argumentieren, dass eine vernunftorientierte Gesellschaft, die religiöse Bindungen überwunden hat, eine weitere Entwicklungsstufe darstellt.
Auch eine säkulare Gesellschaft braucht verbindliche Werte. Daher ist so etwas wie eine Zivilreligion entstanden. Die Naturwissenschaften liefern die Welterklärung, die Menschenrechte die Ethik, und für die Spiritualität sind die Psychologie und die diversen Wellnessangebote zuständig. Das alles zeigt: Die säkulare Weltanschauung hat die gleiche Funktion wie eine Religion, auch sie hat einen quasireligiösen Anspruch. Ob diese Form der «Religion» besser als die ursprüngliche ist, kann man noch nicht bewerten.

Ist nicht eine Ethik zu bevorzugen, die auf dem universellen Anspruch der Menschenrechte beruht – gegenüber einer Vielzahl von Religionen mit ihren jeweils unterschiedlichen Wertesystemen?
Auch eine solche universelle Ethik ist nicht neutral. Sie basiert auf den westlichen Werten, gegen die es in anderen Teilen der Welt Widerstände gibt. Zudem verhält sich die säkulare Gesellschaft trotz ihres Wertesystems hoch aggressiv gegenüber anderen Kulturen. Hier setzt eine Religion wie das Christentum, das den Wert jedes einzelnen Menschen betont, einen Gegenpunkt.

Dann sollte das Christentum wieder präsenter werden in der Öffentlichkeit?
In Europa leidet das Christentum unter einem Sprachverlust. Das ist bedauerlich. Die Kirchen sollten sich stärker am öffentlichen Diskurs beteiligen. So wie der Bundesrat jeweils ein Abstimmungsbüchlein publiziert, könnten auch die Kirchen vor Volksabstimmungen Reflexionsbeiträge veröffentlichen. Und bei konkreten ethischen Fragen müssten sie Position beziehen. Ganz grundsätzlich sollten sich die Kirchen im Sinn des christlichen Humanismus dafür einsetzen, dass die Gesellschaft nicht bloss den Prinzipien der Effizienzsteigerung und Gewinnmaximierung unterworfen wird. In anderen Teilen der Welt, etwa in den USA, spielt Religion eine viel grössere Rolle.

Dass sich Politiker wie Donald Trump auf ihren Glauben berufen, ist jetzt nicht wirklich ein schlagendes Argument für mehr Religion in der Öffentlichkeit.
Natürlich nicht. Nötig ist ein differenzierter Beitrag, es braucht aufgeklärten Glauben. Vor allem geht es nicht darum, Religionen gegeneinander auszuspielen – zum Beispiel das Christentum gegen den Islam. Die Debatte sollte auf einer anderen Ebene erfolgen: Die Hauptfrage ist, wie eine säkulare Gesellschaft mit den drei grossen monotheistischen Religionen Judentum, Christentum und Islam umgehen soll, mit Religionen, die einen Absolutheitsanspruch vertreten und einen Transzendenzbezug haben. Zwischen diesen Welten ist Vermittlungsarbeit gefragt, mehr als bei einem rein interreligiösen Dialog.

Und wie soll der Rechtsstaat mit diesen Religionsgemeinschaften umgehen?
Er soll sie gleichbehandeln und die Kultusfreiheit garantieren. Im vorderen Orient gibt es Staaten, in denen Freitag, Samstag und Sonntag als gleichwertige Ruhetage gelten – weil jeder der drei Tage für eine der drei grossen Religionen eine besondere Bedeutung hat. Vielleicht wird das bei uns dereinst auch der Fall sein. Der Rechtsstaat darf keine der Religionen bevorzugen. Gleichzeitig muss er von ihnen einfordern, dass sie sich an seine Grundprinzipien halten.

Was bedeutet das in Bezug auf Schwimmdispens von muslimischen Schülern oder die Totalverschleierung?
Ich bin gegen eine Schwimmdispens aus religiösen Gründen. Und einem Verbot der Totalverhüllung stimme ich zu. Der Rechtsstaat ist auf mündige, identifizierbare Bürger angewiesen, die ihre Stimme erheben. Aus meiner Sicht verunmöglicht eine Totalverhüllung diesen Diskurs.
Bedeutet Gleichbehandlung auch, dass der Islam in der Schweiz als Religion öffentlich-rechtlich anerkannt werden soll?
Ja, das sollte er, wenn er sich zu den rechtsstaatlichen Grundprinzipien bekennt und demokratisch organisiert ist. Bis dies so weit ist, wird es voraussichtlich noch eine Zeit dauern.

Das Christentum wäre dann nur noch eine Religion unter mehreren.
Grundsätzlich ja. Aber nur schon die Geschichte, die kirchlichen Bauten und auch die Festtage im Kirchenjahr prägen unser Land weiterhin christlich. An Ostern und Weihnachten steht alles für kurze Zeit still, das dürfte sich so schnell nicht ändern. Das Christentum in der Schweiz sollte nicht krampfhaft an irgendwelchen Privilegien festhalten. Sondern den Glauben so leben, dass er eine überzeugende Alternative ist.

Es gibt Stimmen, die einen Vorrang des Christentums mit der Bundesverfassung begründen. Diese beginnt mit den Worten: «Im Namen Gottes des Allmächtigen!»
Diese Anrufung beinhaltet nichts spezifisch Christliches, da steht zum Beispiel nichts von der Dreifaltigkeit. Auch Juden und Muslime können sich damit identifizieren. Aus unserer Verfassung lässt sich keine Vormachtstellung des Christentums ableiten.

Der Schriftsteller Thomas Hürlimann bedauert den Rückzug des Christentums aus der Öffentlichkeit und sagt: «Wo früher das Kreuz hing, hängt heute das Rauchverbot.»
Das Kreuz wird im öffentlichen Raum durch andere Symbole verdrängt – vor allem durch omnipräsente Werbesymbole der Konsumwelt. Wir sollten diese Tendenz hinterfragen. Und nicht den Verlust abendländischer Kultur beklagen, wenn irgendwo eine Buddha-Statue anstelle eines Kreuzes aufgestellt wird. Für einen modernen, aufgeklärten Christen ist das gleichwertige Nebeneinander der Religionen und ihrer Symbole kein Problem.

Und wie glaubt ein moderner, aufgeklärter Christ des 21. Jahrhunderts?
Ein aufgeklärter Christ beschäftigt sich mit Wissenschaft und Philosophie, nimmt die Errungenschaften der Religionskritik ernst. Und lässt dem dauernden Zweifel Raum, denn dieser gehört zum Glauben. Der Gläubige stösst an die Grenzen des Göttlichen, kann es aber nicht fassen.

Der deutsche Historiker Wolfgang Reinhard sagte kürzlich, er gehe jeden Sonntag zur Kirche und sogar zur Osterbeichte. Aber er glaube «nicht so richtig daran».
Ich verstehe diese Skepsis: Wenn wir erleben, wie ein alter Mensch stirbt, sehen wir darin den natürlichen Kreislauf von Werden und Vergehen. Der österliche Auferstehungsglaube lässt sich nicht mit natürlichen Beobachtungen fassen. Er ist ein ethischer Glaube und die logische Folge eines Weltbildes, das der Gewalt nicht das letzte Wort überlässt. Gott lässt das Folteropfer nicht im Stich. Bei der Auferstehung geht es um eine soziale Fragestellung, um den Vorrang von Liebe und Gerechtigkeit. Deshalb ist Ostern so zentral für das Christentum.

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Berater des Papstes
Der 51-jährige St. Galler Christian Rutishauser ist seit 2012 Provinzial der Schweizer Jesuiten. Die Gemeinschaft zählt 60 Mitglieder an sechs Standorten, der Hauptsitz liegt in Zürich. Weltweit hat der Orden gut 17 000 Mitglieder, auch Papst Franziskus ist Jesuit. Rutishauser studierte Theologie in Freiburg i. Üe. und in Lyon. 1992 trat er in Innsbruck ins Noviziat ein, 1998 wurde er zum Priester geweiht. Nach dem Studium der jüdischen Philosophie in Jerusalem und New York promovierte er in Luzern. 2001 bis 2007 leitete Rutishauser das Bildungszentrum Lasalle-Haus in Edlibach ZG. Bis heute leitet er Exerzitien- und Kontemplationskurse und nimmt Lehraufträge für Judaistik in München, Rom und Jerusalem wahr. 2011 pilgerte er mit einer kleinen Gruppe in sieben Monaten zu Fuss von Edlibach nach Jerusalem. Festgehalten ist das Projekt im Buch «Zu Fuss nach Jerusalem. Mein Pilgerweg für Dialog und Frieden». Seit 2014 gehört Rutishauser zu den ständigen Beratern des Papstes für die religiösen Beziehungen mit dem Judentum. (daf)

 

 

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