DANIEL FOPPA

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«Ein Souffleur ist wie ein Sicherheitsgurt»

Der Souffleur Jochen Rieder ist am Opernhaus Zürich vermehrt als Dirigent gefragt. Er kennt die Schwächen der Stars wie kein Zweiter und hilft ihnen durch die Klippen der Partitur.
Tages-Anzeiger, 16. März 2009

Daniel Foppa

«Denn die einen stehn im Dunkeln
und die andern stehn im Licht.
Und man sieht nur die im Lichte,
die im Dunkeln sieht man nicht.»
Bertolt Brecht

Wenn Jochen Rieder arbeiten geht, zwängt er sich in eine enge Box am Bühnenrand, knipst ein Spotlicht an und breitet eine Opernpartitur vor sich aus. Kein Mensch im Zuschauerraum nimmt dann Kenntnis von dem Mann, der schon manche Aufführung gerettet hat. «Der Souffleur ist wie ein Sicherheitsgurt im Auto: Er verhindert keine Unfälle, sorgt aber dafür, dass sie nicht zu schlimm ausgehen», sagt der 38-jährige Deutsche, der seit 2001 am Opernhaus Zürich tätig ist.

Wird wie diesen Frühling Wagners «Siegfried» gegeben, harrt Rieder fünfeinhalb Stunden in seinem Kasten aus. Von dort aus gibt er den Sängern jeweils den Textanfang der Phrasen und die musikalischen Einsätze. Die Kunst des Opern-Souffleurs besteht darin, dies im richtigen Moment zu tun. Eine Regel dafür gibt es nicht. Es ist zum Beispiel nicht so, dass der Zuruf immer einen Takt vor dem Einsatz erfolgt. «Man muss auf musikalische Art unmusikalisch sein, um im richtigen Moment dazwischenzurufen», sagt Rieder. Patzt der Souffleur, ist die Gefahr gross, dass auch die Sänger ihren Einsatz verhauen.

Immer wieder Wagners Reime

Bei Rieder besteht diese Gefahr nicht, denn er ist ausgebildeter Dirigent. Bevor er Souffleur wurde, arbeitete er in Karlsruhe und Bremen als Kapellmeister, Chorleiter und Repetitor. Als sich die Möglichkeit ergab, nach Zürich zu wechseln, sagte Rieder zu: «Mich reizte die Zusammenarbeit mit hervorragenden Sängern.» Dafür nahm er es in Kauf, vom Dirigentenpult in den Souffleurkasten hinabzusteigen.

Rieder erwies sich als Glücksfall für Zürich. Denn nur wenige Opernhäuser verfügen über einen Souffleur mit der Fähigkeit zum Dirigieren, über einen «Maestro suggeritore». Wie vorteilhaft diese Kombination ist, zeigt sich bei der Einstudierung eines Stücks. Zwar leitet die Regisseurin mit szenischen Anweisungen die Probe. Rieder ist jedoch der musikalische Leiter, nach dem sich die Sänger und die Pianistin richten. Stundenlang ruft er den Darstellern Wagners Stabreime zu. «Feine Finten weiss mir der Faule», spricht Rieder Scott MacAllister vor, der zum ersten Mal Siegfried spielt. Der Amerikaner ist froh um diese Unterstützung, ist doch Wagners Dichtung selbst für Deutschsprachige nur schwer zugänglich. Auch Volker Vogel, der den Mime gibt, lobt Rieder über den grünen Klee: «Ich verdanke es zu einem guten Teil Jochen, dass ich meine Ausdruckskraft voll ausspielen kann.»

Tatsächlich orientieren sich einige Sänger während der Aufführung eher am «Maestro suggeritore» als am Dirigenten, der weit entfernt den Taktstock schwingt. «Ich musste mich erst daran gewöhnen, dass sich Sänger, die ich nur von CD-Aufnahmen kannte, voll auf mich verlassen», sagt er. Mit der Zeit entwickelt sich ein intensives Vertrauensverhältnis. Rieder trifft sich auch privat mit den Sängern, die oft keine Bezugsperson haben, wenn sie für ein paar Wochen in Zürich wohnen. Der Hobbykoch lädt sie zum Essen ein, macht mit ihnen Ausflüge auf die Rigi. So können Freundschaften entstehen, und manche Sänger machen es bei einem Engagement im Ausland zur Bedingung, dass sie von Rieder begleitet werden.

«Ein berühmter Bass hat mir einmal gesagt: Wenn ich gewusst hätte, wie gut du soufflierst, hätte ich den Text nicht auswendig gelernt», sagt Rieder. Er erzählt dies ohne Allüren, und das einhellige Lob der Darsteller gibt ihm Recht.

In aller Eile einen Frack besorgt

Obwohl Rieder an seinem Beruf hängt, ist er vermehrt als Dirigent gefragt. Auslöser dafür war ein Zufall. Im Dezember 2006 war er als Souffleur an der Produktion von Richard Strauss’ «Ariadne auf Naxos» beteiligt. Plötzlich erkrankte Dirigent Christoph von Dohnányi. «Am Tag der Aufführung rief mich Opernhausdirektor Pereira an. Er sagte, Dohnányi könne nicht dirigieren und wünsche, dass ich einspringe.» Rieder sagte mit Herzflattern zu, musste sich in aller Eile einen Frack besorgen – und dirigierte die schwierige Oper mit grossem Erfolg. Seither leitete er am Opernhaus die «Zauberflöte», das Tonhalle-Orchester sowie vor wenigen Wochen die geglückte Premiere von «Hoffmanns Erzählungen» in Innsbruck. Bis zur definitiven Rückkehr ans Dirigentenpult scheint es nicht mehr lange zu dauern.

Vorderhand wird Rieder jedoch wieder in seinen Kasten steigen und als «erster, wissendster Zuschauer» den Stars unter die Röcke schauen, wie es im Lied «Der Souffleur» von André Heller heisst. Er wird weiterhin mit dem Rücken zum Orchester dirigieren und stundenlang in die Musik hineinrufen – im Schatten zwar, doch auf Augenhöhe mit den Brettern, die die Welt bedeuten.

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