Daniel Foppa
Spontis in Sandalen, bürgerliche Typen mit Krawatten und zahllose Köpfe voller Ideen: Im Frühling 1983 herrscht in der Casa d’Italia ein grosses Chaos. Rund 30 grüne Gruppen aus allen Landesteilen sind im Berner Restaurant zusammengekommen, um eine nationale Dachorganisation zu gründen. Es ist ein bunter Haufen, den der Zeitgeist verbindet: Seit den 1970er Jahren setzen sich alle Anwesenden gegen Autobahnprojekte oder Atomkraftwerke ein, sie fordern mehr Grünflächen und Freiräume.
Manche, die den Geist der 68er atmen, möchten den grünen Kampf mit dem roten koppeln, die Armee abschaffen und die Gesellschaft umkrempeln. Andere, die aus liberalen Kreisen stammen, erste kantonale Umweltparteien schufen und mit dem Waadtländer Daniel Brélaz auch schon einen Nationalrat haben, können mit solcher «Extremistenprosa» (Brélaz) nichts anfangen. Trotzdem wollen alle Grünen 1983 ihre Kräfte bündeln – und scheitern krachend. In der Casa d’Italia knallen die Türen.
Doch dieses Zerwürfnis ist der Anfang, nicht das Ende. Denn wenige Wochen später verbünden sich die gemässigten Grünen unter sich: Am 28. Mai entsteht die Föderation der grünen Parteien der Schweiz (GPS), die Vorläuferin der heutigen Grünen. Die GPS hat hehre Ziele. Den «Schutz und die Verbesserung der Umwelt» will sie fördern, «gegen jede Form von Verschmutzung und Verschwendung» kämpfen, das ungebremste Wachstum stoppen und bei den Leuten ein «neues Bewusstsein» entwickeln.
Vierzig Jahre ist das her. Anders als Beobachter damals prophezeiten, sind die Grünen nicht wie eine «Sternschnuppe» verglüht, sondern immer weiter aufgestiegen. Sie erlebten zwar Umstürze und Spaltungen, sind aber auch immer wieder gewachsen – und konnten bei den letzten Wahlen am meisten zulegen. Von einem grünen Bundesrat war nach 2019 die Rede, die Ökologie schien zum neuen Lebensgefühl zu werden.
Aber war der Erfolg auch nachhaltig? Kantonale Wahlen und Umfragen lassen erwarten, dass die Grünen im Herbst verlieren. Der Krieg dominiert die Agenda stärker als das Klima, und mit der Ablehnung des CO2-Gesetzes hat die Partei 2021 eine bittere Niederlage erlitten. Vermehrt wenden sich junge Aktivisten ab von den Grünen, weil die Partei den Klimaschutz nicht weiterbringe. Überhaupt steht die Schweiz in Sachen Umwelt nicht glänzend da. Beim Pro-Kopf-Ausstoss an Treibhausgasen belegt sie einen Spitzenplatz, die Abfallmenge wird grösser statt kleiner, und die biologische Vielfalt hat allein seit den 1990er Jahren deutlich abgenommen. Kurz: Vierzig Jahre nach Gründung der Grünen ist die Ökobilanz des Landes durchwachsen. Höchste Zeit also für eine Erfolgsrechnung: Was hat die Partei seit ihrem Bestehen für die Natur geleistet?
Die Anfänge wirken eindrücklich: Just als die GPS in die nationale Politik eintritt, fängt das «Jahrzehnt der Umwelt» an. So nennt der Historiker Ueli Haefeli die 1980er Jahre, denn damals kommt umweltpolitisch viel zustande. 1983 verabschiedet das Parlament ein erstes Umweltschutzgesetz; auf dieser Basis werden in Kantonen und Gemeinden Verordnungen zur Luftreinhaltung, zum Gewässer- oder zum Lärmschutz erlassen. Von den Fortschritten profitieren wir noch immer: Die Luftqualität verbessert sich, und ganz selbstverständlich schwimmt man heute durch Seen, in denen Baden vor fünfzig Jahren undenkbar gewesen wäre. Die Massnahmen tragen der Schweiz den Ruf einer Vorreiterin ein, weltweit wird das Land für seinen Umweltschutz bewundert.
An diesen Vorgängen haben die Grünen laut Haefeli einigen Anteil: Indem sie in die politischen Gremien vordringen, können sie vielerorts dafür sorgen, dass die Schutzverordnungen auch wirklich umgesetzt werden. Doch das Umweltjahrzehnt können sie nicht für sich verbuchen. Dem Gesetz von 1983 lag ein Verfassungsartikel zum Umweltschutz zugrunde, den das Volk schon 1971 angenommen hatte – mit einem rekordhohen Ja-Anteil von 93 Prozent. Der Zustand der Natur, heisst das, beschäftigte die Menschen schon lange, bevor es die Grünen gab. Die Partei ging aus einer allgemeinen Stimmung hervor und trug diese dann systematisch in die Politik hinein.
In den 1980er Jahren geht das freilich fast von allein: Krisen und Katastrophen lassen viele Leute Partei für die Umwelt ergreifen. Direkt vor den Wahlen von 1983, die den Grünen drei Sitze bescheren, warnen Experten vor einem «Waldsterben». Drei Jahre später explodiert in Tschernobyl ein Atomreaktor, kurz darauf brennt es auf dem Industriegebiet Schweizerhalle bei Basel. Die Bevölkerung ist alarmiert, die GPS legt zu. Bei den Parlamentswahlen von 1987 macht sie einen Sprung, 1991 wächst sie weiter und wird zum Akteur, mit dem zu rechnen ist.
Grüne Mobilisierung gegen die Eisenbahn
Als solcher startet die Partei ab den 1990er Jahren auch Referenden und Initiativen – allerdings ist deren umweltfreundlicher Charakter nicht immer über jeden Zweifel erhaben. Mit ihrem ersten Referendum wollen die wachstumskritischen Grünen 1991 das Bahnprojekt des Jahrhunderts stoppen: Die Neat halten sie für überdimensioniert. Um eine «Transitlawine» zu verhindern, bringen sie die geplanten Eisenbahntunnel durch die Alpen an die Urne, unterstützt von Greenpeace, WWF – und den Schweizer Demokraten. Sowieso schreckt die GPS vor unheiligen Allianzen nicht zurück: Wie die SVP stellt sie sich 1992 gegen den Beitritt zum EWR, aus Furcht vor einer «Verschlechterung» im Umweltbereich.
Auch wenn das Volk der Nein-Parole folgt: Den Grünen bringt der Sieg nichts. In den 1990er Jahren verlieren sie in dem Masse an Wählern, wie die Dringlichkeit der Umweltthemen schwindet. Das Waldsterben ist ausgeblieben, neu macht eine Rezession den Leuten Sorgen. Dieses Muster wird sich immer wieder zeigen: Es ist die Themenkonjunktur, die über den Erfolg der Grünen entscheidet. Hochs und Tiefs erleben sie in der Folge in höherer Kadenz als jede andere grössere Partei des Landes.
Die Baisse der 1990er liegt paradoxerweise in einer Zeit, in der sich die Partei auf dem Papier vergrössert. Sukzessive hat die GPS nämlich ab den späten 1980er Jahren die grünen Sponti-Grüppchen aufgenommen, die seit dem Eklat in der Casa d’Italia eher erfolglos für sich politisierten. Die Alternativen sind nicht mehr zwingend in Sandalen unterwegs, an ihren Positionen aber immer noch deutlich zu erkennen: Die ursprünglich bürgerlich geprägte Partei rückt jetzt merklich nach links. Sie kümmert sich künftig stärker um sozialpolitische Fragen und geht mit Armeegegnern auf Tuchfühlung. Dieser Schwenk sorgt intern für Querelen – sie werden bald zum Bruch führen.
Die Umweltpolitik aber steht nicht still, während sich die Grünen neu sortieren. Im Gegenteil: Durch Uno-Konferenzen wie jene in Rio (1992) oder Kyoto (1997) kommt der Klimawandel auf die Agenda. Nicht, dass das Thema in der Schweiz ganz neu gewesen wäre. Schon 1979 trafen sich in Genf Vertreter Dutzender Länder zu einer Klimakonferenz – die in der Politik jedoch keinen Widerhall fand. Die gerade entstehenden Grünen verpassten damals die Chance, die Erderwärmung früh zu ihrem Thema zu machen. Erst als Klimafragen eine gewisse Popularität erlangten, begannen sie sie aufzugreifen.
Zunächst aber fliessen international diskutierte Umweltfragen wie Biodiversität und Nachhaltigkeit auch beim Bund in Aktionspläne und Gesetze ein: 1999 beschliesst das Parlament das «Bundesgesetz über die Reduktion der CO2-Emissionen». In den internationalen Gremien engagiert sich die Schweiz aktiv, weiterhin geniesst sie den Ruf einer starken umweltpolitischen Kraft. Dieses Image hat das Land zwar nicht der grünen Partei zu verdanken, doch es ist auch nicht ganz von ihr zu trennen: Auf ihrem Marsch durch die Institutionen sind die Umweltbewegten in der Bundesverwaltung angekommen. Auf die Gestaltung der Umweltdiplomatie etwa können sie durchaus Einfluss nehmen.
Auf das Schisma folgt Hochmut
Im neuen Jahrtausend spielt sofort wieder das alte Muster: Mit dem Hitzesommer von 2003 kommt die Sorge ums Klima in breiten Bevölkerungskreisen an – die Grünen legen bei den Wahlen zu, und auch die Mitgliederzahlen steigen. Dennoch steht die Partei vor einer Zerreissprobe. Wie 1983 findet 2004 eine chaotische Parteiversammlung statt, diesmal im Restaurant Au Premier, bei den Zürcher Grünen. Es ist der grosse Tag des Balthasar Glättli: Der 32-jährige Gemeinderat gehört zum aktivistischen Flügel und plant den Umsturz.
Er deckt die Parteispitze mit Vorwürfen ein und fordert, dass die Grünen mehr für sozial Schwache und Ausländer einstehen. Jetzt bricht der Konflikt zwischen Fundis und Realos offen auf, am Ende steht Glättli als Sieger da: Das bisherige Co-Präsidium von Martin Bäumle und Vreni Püntener ist abgewählt. Am nächsten Tag plädiert die grüne Zürcher Regierungsrätin Verena Diener für eine Parteispaltung; gut zwei Wochen später folgt das grosse Schisma: Diener und Bäumle geben die Gründung der Grünliberalen Partei Zürich bekannt.
Die Parteispitze weint ihrem liberalen Flügel kaum eine Träne nach. Dieser Hochmut wird durch anhaltende Erfolge gestärkt. 2005 kommt zum ersten (und bisher einzigen) Mal eine von den Grünen mitlancierte Volksinitiative zu einem Umweltthema durch: Das Volk spricht sich «für Lebensmittel aus gentechnikfreier Landwirtschaft» aus. Das Moratorium, das den Anbau gentechnisch veränderter Pflanzen verbietet, gilt bis heute. Auch das Klima machen die Grünen jetzt offensiv zum Thema. Filme wie Al Gores «Unbequeme Wahrheit» sensibilisieren das Publikum für die Probleme der Erderwärmung – mit einer 2007 gestarteten Initiative «für ein gesundes Klima» stösst die Partei daher auf offene Ohren. Der Bundesrat nimmt das Anliegen auf und arbeitet als indirekten Gegenvorschlag eine Totalrevision des CO2-Gesetzes aus.
Derweil können die Grünen 2007 das beste Wahlergebnis ihrer Geschichte verbuchen und mit dem Genfer Robert Cramer erstmals einen Ständeratssitz erobern. «Ein Meilenstein», erklärt eine strahlende Parteichefin Ruth Genner, als sie am Wahlabend das Fernsehstudio betritt. 25 Jahre nach ihrer Gründung, so scheint es, sind die Grünen im Zentrum der Macht angekommen. Um sogleich bei einem der grössten Polit-Krimis der Schweiz mitzumischen. Kurz nach den Wahlen küren sie Luc Recordon zum Bundesratskandidaten. Er hat zwar keine Chancen, soll aber den Angriff auf den Sitz von Christoph Blocher lancieren. Hinter den Kulissen bauen SP und CVP die Kandidatur von Eveline Widmer-Schlumpf auf, Blocher wird abgewählt. Alles scheint zu gelingen. Selbstsicher verkündet der neue Präsident Ueli Leuenberger, die Grünen müssten mittelfristig eine 15-Prozent-Partei werden.
Doch unter Leuenberger wird die Partei ein Sammelbecken der Beliebigkeit. Es wird über «Glück» als Schulfach diskutiert und im Verbund mit der SVP gegen Auslandeinsätze der Armee gekämpft. Prägende Figuren sind gestandene Politiker wie Jo Lang, Geri Müller und Daniel Vischer, die sich vorab in der Sicherheits- und Aussenpolitik engagieren. Die Ökologie überlässt man Shootingstars wie Bastien Girod. Zwar gehören auch Pazifismus und Feminismus seit je zu den Kernthemen der Partei. Von einer kohärenten grünen Politik ist jedoch wenig zu spüren: Das ökologische Hauptanliegen ist zerfleddert, der Support der Wählerschaft ebenso.
Und dies, obwohl die Grünen den Zeitgeist eine Weile lang wieder für sich hätten: Die Reaktorkatastrophe in Fukushima belebt 2011 die Ängste vor der Atomkraft – ein Thema, das die Grünen in der DNA haben. Unmittelbar nach dem Unfall lancieren sie eine Initiative für den Atomausstieg; kurz darauf beschliesst auch der Bundesrat eine Ausstiegsstrategie. Für die Grünen ist das ein Erfolg, selbst wenn ihr eigener, radikalerer Vorschlag 2016 keine Mehrheit findet. Allerdings darf man hinter diesen «Erfolg» auch ein Fragezeichen setzen: Wie sinnvoll ist es, in Zeiten der immer akuteren Klimakrise den Ausstieg aus einer CO2-armen Form der Stromproduktion zum prioritären grünen Thema zu machen?
So oder so, Fukushima und die Folgen helfen den Grünen nicht weiter: Sowohl 2011 als auch 2015 verlieren sie bei den Wahlen. «Die Leute messen Umweltfragen derzeit keine grosse Bedeutung bei», erklärt eine ernüchterte Co-Parteichefin Regula Rytz am Wahlabend 2015. Wirtschaftsthemen und die Flüchtlingsfrage dominierten den Wahlkampf, das Parlament rückt nach rechts.
«Dass die Grünen nach solchen Niederlagen nie aufgegeben haben, ist prägend für diese Partei», sagt der Politologe Werner Seitz, der zusammen mit der Politologin Sarah Bütikofer im Mai einen Sammelband zur Geschichte der Grünen vorlegt. Tatsächlich schlägt das Pendel bald wieder um. Der Sommer 2018 bringt Dürre, Hitze – und Greta Thunberg. Aus dem Schulstreik der Schwedin entwickelt sich eine Jugendbewegung, die das Thema Klima mit neuer Wucht aufs Tapet bringt. Auch in der Schweiz sind regelmässig junge Menschen auf der Strasse, im September 2019 demonstrieren 60 000 Personen in Bern für mehr Klimaschutz.
Als die Grünen einen Monat später die Wahlen gewinnen, überrascht daher nur das Ausmass ihres Sieges: Sie sind jetzt die viertstärkste Partei, noch vor der CVP. Eine Strategie zum Umgang mit der neuen Macht haben sie jedoch nicht. Erst nach langem Zögern entscheidet sich Rytz für einen Angriff auf den Sitz von FDP-Bundesrat Ignazio Cassis – und scheitert klar.
Die Tragik des Mainstreams
Auch der Umwelt bringt die Stärke der Grünen wenig. Mitte-links hat nun zwar eine Mehrheit im Nationalrat. Doch die Politik wird dadurch nicht unbedingt ökologischer: Oft fehlt die notwendige Unterstützung der Mitteparteien, oder der Ständerat bremst Umweltanliegen aus. Als im Juni 2021 dann das CO2-Gesetz scheitert, wird offensichtlich, was sich schon länger abzeichnete: Die Schweiz hat ihre umweltpolitische Vorreiterrolle verloren. «Früher war die Schweiz mit ihren Gesetzen weiter als die EU, seit zehn, fünfzehn Jahren ist es eher umgekehrt», sagt der Umwelthistoriker Ueli Haefeli.
An diesem Trend vermochte die Präsenz der Grünen offenbar nichts zu ändern. Was heisst das für die Bilanz der Partei? Grosse Würfe, um die «Verschmutzung und Verschwendung» zu stoppen, sind weitgehend ausgeblieben. Dass Erfolge wie das Gentech-Moratorium oder der Atomausstieg einen Beitrag zu den drängendsten Umweltproblemen unserer Tage leisten, darf man bezweifeln. Mit Sicherheit aber haben die Grüne Naturthemen aller Art überhaupt zur Diskussion gebracht, dadurch Druck auf andere Akteure gemacht und letztlich auch auf die Mentalität eingewirkt. Grüne Themen sind Mainstream geworden.
Doch wenn darin der Erfolg der Grünen liegt, dann birgt das auch ihre Tragik. Denn ökologisch orientierten Menschen steht heute eine Vielzahl an politischen Heimaten offen: Sie wählen nicht mehr automatisch das Original – auch wenn dessen historische Mission noch längst nicht erfüllt ist.