«Die Schweiz muss sich von ihrer Fixierung auf die EU lösen»ta_20130731_ueli_maurer

«Die Schweiz muss sich von ihrer Fixierung auf die EU lösen»

Bundespräsident Ueli Maurer fordert intensivere Beziehungen zu Ländern wie China, Russland und Kanada. Und er betont, es sei noch nicht entschieden, ob die Schweiz tatsächlich EU-Richter akzeptieren werde.
Tages-Anzeiger, 21. Juli 2013

Mit Ueli Maurer sprachen Markus Brotschi und Daniel Foppa in Bern

In Ihrer 1.-August-Rede vergleichen Sie die Schweiz mit einem David, der gegen Goliath kämpft. Ist die Schweiz so stark unter Druck?
Die Schweiz war schon immer unter Druck – im Moment insbesondere wegen Steuerfragen. Das Gefährliche ist jedoch, dass die Schweiz im Laufe der Jahre schleichend immer mehr Souveränität abgegeben hat.

In welchen Bereichen?
Mit jedem internationalen Abkommen geben wir einen Teil unserer Eigenständigkeit auf. Im Verkehrsbereich haben wir zum Beispiel viel EU-Recht übernommen, bei der Unternehmenssteuerreform ebenso, und beim Abkommen zum US-Steuergesetz Fatca sind wir unter Druck der Amerikaner.

Die Beziehungen zu den USA waren auch schon besser. Wie bewerten Sie das Verhältnis?
Fatca gilt für alle Länder, das ist kein spezifisches Problem der Schweiz mit den USA. Gefährlich dabei ist, dass zwischen den Staaten zunehmend das Recht des Stärkeren gilt, das das Recht des Schwächeren aushebelt. Die Amerikaner spielen dabei eine besondere Rolle, weil sie weltweit versuchen, ihr Recht durchzusetzen. Damit umgehen sie die üblichen rechtsstaatlichen Gepflogenheiten. Ähnliches findet in internationalen Organisationen wie den G-20 und der OECD statt, die sich sehr weit von ihrem Gründungsgedanken entfernt haben und nun ohne demokratische Legitimation Macht ausüben.

Das klingt nach arg getrübten internationalen Beziehungen.
Alle kleinen Länder sind davon betroffen, dass zunehmend das Recht des Stärkeren gilt. Das ist eines der zentralen Probleme der Schweiz. Zudem haben wir in den letzten Jahren durch die Fokussierung auf die EU das Verhältnis zu anderen Ländern wie den USA schlechter gepflegt als in der Vergangenheit. Trotzdem: Unsere Beziehung zu den USA ist immer noch freundschaftlich, und wir vertreten sie weiterhin, zum Beispiel im Iran.

Mit welchen Staaten sollte die Schweiz denn intensivere Beziehungen aufnehmen?
Unser Verhältnis zum Ausland muss wieder ausgewogener werden, nicht nur EU-fokussiert. Wir sollten die Beziehungen zu Russland, China, Kanada und den südamerikanischen Staaten besser pflegen. Da braucht es Korrekturen. Die Schweiz muss sich von ihrer Fixierung auf die EU lösen.

Sie haben mit Ihrer China-Reise einen Akzent in diese Richtung gesetzt. Und Kritik ausgelöst mit der Äusserung, man müsse unter das Tiananmen-Massaker «einen Strich ziehen».
Das war gelebte Realitätspolitik. Die Schweiz hat ihre Beziehungen zu China mit dem Freihandelsabkommen soeben auf eine neue Stufe gehoben. Und dann geschieht das, was man im politischen Alltag immer wieder macht: Man zieht einen Strich unter Vergangenes und beginnt neu – was nicht bedeutet, dass man das Vergangene gutheisst oder vergisst.

China hat das Massaker nie aufgearbeitet. Da kann man doch nicht einfach «einen Strich» ziehen.
Mit dem Menschenrechtsdialog, den die Schweiz mit China führt, werden solche Themen aufgearbeitet. Zudem hat China in den letzten 20 Jahren nicht nur in wirtschaftlicher Hinsicht, sondern auch bei Menschenrechtsfragen grosse Fortschritte gemacht. Da ist eine eindrückliche Dynamik im Gang. Wir sollten China die Zeit einräumen, die es für weitere Fortschritte braucht.

Viel Dynamik ist auch in der Beziehung zur EU zu spüren. So soll der EU-Gerichtshof die Kompetenz erhalten, abschliessend über bilaterale Streitfälle zu entscheiden. Selbst Schweizer Europarechtler kritisieren diesen Beschluss.
Das ist kein Beschluss des Bundesrats. Es wurde noch kein Verhandlungsmandat verabschiedet, sondern lediglich über den Stand der Diskussionen mit EU-Unterhändlern informiert. Geäussert haben sich der Aussenminister und ein Beamter – und nicht der Gesamtbundesrat. Hier ist das letzte Wort noch nicht gesprochen.

Dieser Beamte, Staatssekretär Yves Rossier, soll von Ihnen während einer Bundesratssitzung für seine Äusserung stark gerügt worden sein.
Sie wissen, dass ich nicht über Interna aus der Bundesratssitzung informiere.

Man hat den Eindruck, dass es im Bundesrat sehr harmonisch zu- und hergeht. Führt es zu besseren Entscheiden, wenn Bundesräte derart pfleglich miteinander umgehen?
Der Eindruck täuscht. Es wird in den Sitzungen so hart und emotional wie früher gerungen. Nur dringt weniger davon nach aussen. Der Bundesrat hat aus Fehlern der Vergangenheit gelernt, als sich seine Mitglieder öffentlich gestritten haben. Deshalb geben wir beim Debriefing in den Departementen bei gewissen Geschäften nur noch das Resultat bekannt. Wir informieren aber nicht darüber, wie der Entscheid zustande kam. Sonst rufen die Journalisten ihre Kontaktleute an, um zu erfahren, wie die Diskussion verlief und wer wie stimmte.

Keine Angst, dass Sie plötzlich als «halber SVP-Bundesrat» gelten, weil Ihre Position nicht mehr nach aussen dringt?
Nein, diese Angst habe ich nicht. Es gibt zwar Stimmen in der Partei, die von mir entschiedenere Kommentare zu Bundesratsentscheiden fordern. Doch die SVP weiss, dass ich im Bundesrat ihre Position vertrete. Ich bin genug stark verankert in meiner Partei.

Wie stark werden Sie sich im Vorfeld der Abstimmung vom 22. September über die Abschaffung Wehrpflicht engagieren?
Ziemlich stark. Die Sicherheitspolitik wird in der Öffentlichkeit stiefmütterlich behandelt. Die Initiative eröffnet die Chance für eine Sicherheitsdebatte.

Dabei geht es auch um die Wehrgerechtigkeit. Im Kanton Jura leistet weniger als die Hälfte der jungen Männer Militärdienst.
Heute werden beim Aushebungsverfahren tendenziell mehr Männer vom Militärdienst befreit, weil gesundheitliche Probleme früher festgestellt werden als im alten Aushebungsverfahren. Da stellt sich in der Tat die Frage der Wehrgerechtigkeit. Aber am Schluss müssen wir feststellen, dass das heutige System das beste ist für die Schweiz.

Es ist doch ungerecht, wenn in Appenzell Innerrhoden 80 Prozent Militärdienst leisten und im Jura nicht einmal die Hälfte.
Tatsächlich haben wir in den letzten Jahren vor allem einen grossen Graben zwischen ländlichen und städtischen Kantonen. Dabei dreht es sich einerseits um die Frage der Mentalitäten, aber auch um die körperliche und psychische Verfassung der Bevölkerung.

Die GSoA wirbt mit Roger Federer, der keinen Militärdienst leistete.
Ich kenne die Geschichte von Roger Federer und weiss, warum er keinen Militärdienst leistete. Ich kann die Gründe nachvollziehen.

Eine allgemeine Dienstpflicht für Männer und Frauen brächte am meisten Wehrgerechtigkeit.
Wenn wir zusätzlich 40 000 oder 50 000 Frauen pro Jahr zu einem Dienst verpflichten wollten, bräuchte es entsprechende Strukturen. Wir sollten aber das Freiwilligenprinzip nicht ausser Kraft setzen. Frauen leisten sehr viel freiwillige Arbeit, etwa bei der Betreuung von Kindern und älteren Menschen.

Sollten die Frauen verpflichtet werden, Dienst zu leisten?
Nein, ich bevorzuge das heutige System. Wir sollten die Freiwilligkeit fördern. Eine junge Frau kann Militärdienst leisten, wenn sie will. Wir müssen offensiver kommunizieren, dass die Armee ein Friedensförderungsinstrument ist. Dem Frieden zu dienen, ist ein nobles Prinzip. Viele junge Leute profitieren bei ihrer Ausbildung vom Staat. Wir verpflichten die Männer, ein halbes Prozent ihrer Lebenszeit für die Sicherheit des Landes zur Verfügung stellen. Es muss wieder cool sein, Militärdienst zu leisten.

Haben junge Männer heute nicht ein viel entspannteres Verhältnis zur Armee als noch vor 20 Jahren?
Ja, wenn ich heute eine RS besuche und einen Vergleich zu früher ziehe, muss ich sagen: Das sind tolle Leute, die sind sehr leistungsbereit. Auch wenn es manchmal Leerläufe gibt, wird der Dienst in der Regel mit grossem Einsatz geleistet.

Das Parlament will mehr Geld für die Armee. Der Bundesrat weigert sich aber, diesen Beschluss umzusetzen.
Der Bundesrat ging mit einer Vorlage für 4,7 Milliarden Franken pro Jahr in die Vernehmlassung. Inzwischen hat der Nationalrat eine Motion für 5 Milliarden überwiesen, der Ständerat wird dem wohl folgen. Dann wird der Bundesrat nochmals über die Bücher müssen und den Betrag allenfalls erhöhen.

Die Armee wird nochmals stark verkleinert. Warum braucht sie überhaupt mehr Geld?
Die Armee lebt seit Jahren von der Substanz, auch weil wir ein übergrosses Immobilienportfeuille unterhalten müssen. Wir beschafften zu wenig Material und können die Truppen nicht ausrüsten. Die Armee bräuchte 1,2 Milliarden mehr pro Jahr. Zudem sind Rüstungsgüter heute technologisch viel anspruchsvoller und müssen rascher ersetzt werden. Das Budget bestimmt über die Bereitschaft der Armee.

Welche Aufträge kann die Armee denn nicht mehr übernehmen, wenn das Budget nicht erhöht wird?
Schon heute können wir keine Sanitätssoldaten mehr aufbieten zur Betreuung von Behinderten in Ferienlagern. Wir reduzierten bereits die Einsätze für die Allgemeinheit und sind nur noch bei ganz grossen Anlässen präsent. Mit einem tieferen Bestand werden wir Phasen haben, in denen wir keine Genie- oder Infanterietruppen mehr im Dienst haben. Und diese auch nicht in angemessener Zeit aufbieten können, wenn eine Naturkatastrophe passiert.

 

 

 

 

 

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