DANIEL FOPPA

«Die plötzliche Lust zum Klettern»_Frisch

«Die plötzliche Lust zum Klettern»

Max Frisch war ein begeisterter Wanderer und Alpinist. Reportagen über Gipfeltouren und detaillierte Bergepisoden in seinen Romanen laden zum Nachsteigen ein.
Tages-Anzeiger, 26. Mai 2011

Daniel Foppa

Der junge Mann hat Grosses vor. Vom Glarnerland aus will er in sechs Tagen über die Apen nach Locarno wandern. Er ist allein unterwegs, trägt ein Zelt mit sich. Kurz nach dem Start, am Fuss des Tödi, dann das Missgeschick: Der Wanderer fällt in einen Bach, ist bis zur Hüfte nass und muss eine kalte Nacht auf 2000 Meter Höhe verbringen. Max Frisch heisst der 26-Jährige, der in Wandervogel-Manier nach Süden zieht. Über seinen Gewaltmarsch berichtet er am 13. August 1937 in der NZZ.

Die Bergreportage «Über die Alpen» ist eine jener typischen feuilletonistischen Arbeiten, die Frisch in den 1930er- Jahren für die NZZ verfasst. Er berichtet darin über Erlebnisse als Student, als Stadtspaziergänger – und immer wieder als Alpinist. Im Sommer sind die Glarner Alpen sein bevorzugtes Tourengebiet, im Winter zieht es den Skitourengeher mit Vorliebe in die Schwyzer Alpen.

Riskantes Unterfangen

Frisch unternimmt Touren im hochalpinen Gelände. So beschreibt er auf nahezu einer ganzen Seite in der NZZ die Besteigung des 2914 Meter hohen Bächistocks in der Glärnischkette. Ebenso sportlich ist der Gletscheraufstieg über die Chammlilücke zur Planurahütte auf 2947 Metern. Offenbar sind Frisch und sein Seilpartner zu spät im Jahr unterwegs. Der Neuschnee lässt die Tour zum riskanten Unterfangen werden:

Neuschnee ist gefallen, und weithin sehen wir unsere fadendünne Spur, die im grossgelegten Bogen vom Scheerhorn herüberführt. Wieviele Male wohl habe ich mit dem Pickelstock gestochert, damit wir nicht von heimtückisch verschneiten Spalten überrascht würden? Einmal brach mein Gefährte bis zum Schenkel hinein, ein andermal hielt mich mein Rucksack.

Fotografien und Zeugnisse von Familienmitgliedern belegen, dass der Autor tatsächlich Erlebtes beschreibt. Im Sommer ist Frisch meist mit seinem Bruder Franz unterwegs, im Winter mit seinem Jugendfreund und Förderer Werner Coninx, der ihm das Engadin näherbringt und eine Skiausrüstung schenkt.

Wie entscheidend das Bergmotiv für den jungen Autor ist, zeigt die 1937 veröffentlichte Erzählung «Antwort aus der Stille». Sie handelt von einem Mann, der durch eine riskante Erstbegehung einen Ausweg aus seiner Lebenskrise sucht, schliesslich aber reuig zurückkehrt. Frisch selbst hat die Aufnahme der Erzählung in die Werkausgabe verhindert. 2009 wurde sie von Suhrkamp neu verlegt. Der Zürcher Literaturwissenschafter Peter von Matt erkennt darin eine «unmittelbare Kritik des zeitgenössischen Heroenkults, nicht zuletzt des faschistischen». Für Frischs Freund Gottfried Honegger ist das frühe Werk hingegen «sentimentaler Kitsch».

Auch nach «Antwort aus der Stille» spielen die Berge immer wieder eine Rolle in Frischs Werk. So wird im «Tagebuch I» von einem Alpenflug berichtet, vorbei am Gipfel des Finsteraarhorns:

Die plötzliche Lust zum Klettern, überhaupt die Gier, den Dingen wieder näherzukommen. Nicht aus Angst vor dem Schweben; wir fühlen uns ja, wie gesagt, unverschämt sicher in unserem Polster, und der Gedanke, dort drüben auf dem schwärzlichen Grat zu stehen, gibt erst wieder ein Gefühl von Gefahr, aber auch von Wirklichkeit.

Dasselbe Bild greift Frisch in «Homo Faber» auf, wenn Walter Faber in der Super Constellation ebenfalls am Finsteraarhorn vorbeifliegt und plötzlich den Wunsch verspürt, «Heu zu riechen» und «die Erde zu greifen». Was Hugo Loetscher später im Essayband «Lesen statt Klettern» zurückweisen wird, klingt bei Frisch immer wieder an: Bergsteigen als gesteigerte Lebenserfahrung, Klettern über dem Abgrund als existenzielles Grunderlebnis. Frischs «Antwort aus der Stille» hätte eine treffliche Vorlage für einen Luis-Trenker-Bergfilm abgegeben. Gleichzeitig finden sich bereits in seinen frühen Texten Stellen, die den alpinen Heroismus und die Bergkameradschaft ironisieren. In der Reportage «Freunde und Fremde» schildert Frisch eine Besteigung des 4545 Meter hohen Doms im Wallis – eine der klassischen Hochtouren der Alpen. Als die Seilschaft endlich am Gipfel ist, erwartet Frisch, dass sich ein Gefühl der Erhabenheit einstellt. Doch der Seilgefährte schaut statt auf das Gipfelmeer bloss auf den Mund des Kameraden und sagt schliesslich: «Du. Weisst du, Max: Hier ist dir eine Zahnplombe weg.»

Ähnlich nüchtern wird in einer Episode im «Holozän» vom Gipfelerfolg am Matterhorn erzählt:

Kurz nach zehn Uhr, plötzlich, standen sie bei dem eisernen Gipfelkreuz, stolz und ein wenig enttäuscht. Das also ist alles: Man isst einen kalten Apfel auf dem Matterhorn.

Danach beschreibt der Erzähler derart detailliert, wie die Seilschaft beim Abstieg über den Hörnligrat in Probleme gerät, dass vermutet werden kann, Frisch selbst habe den Berg bestiegen.

Flucht über die Berge

Bestimmt aus eigener Erfahrung gekannt hat Frisch den Piz Kesch in Graubünden, dessen Besteigung er in «Gantenbein» schildert, und natürlich den Bergweg, auf dem Herr Geiser im «Holozän» aus dem durch ein Unwetter abgeschnittenen Onsernonetal zu fliehen versucht. Frisch verwahrte sich dagegen, die Geiser-Geschichte autobiografisch zu lesen, räumte aber ein, die Szenerie sei «authentisch».

Beat Hächler hat in seinem literarischen Tessin-Wanderführer «Das Klappern der Zoccoli» den Weg derart genau nachgezeichnet, dass man heute auf Herrn Geisers Spuren von Berzona aus über den Passo della Garina wandern kann. Die Bergpassagen in Frischs Werk sind so vielfältig, dass sie die beiden jungen Schauspieler Gian Rupf und René Schnoz zu ihrem Programm «Frisch am Berg» inspiriert haben. Die dramatische Lesung zeigt augenzwinkernd, wie echt Frischs Leidenschaft für die Berge war – und wie stark er sie gleichzeitig hinterfragte. So heisst es im Spätwerk «Blaubart» über ein paar Seiten verstreut:

Was hilft, ist Wandern. (. . . ) Es bleibt nichts als Wandern. (. . .) Natürlich hilft auch Wandern nicht.

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«Ein Leben lang in die Berge»
Der Autor und Alpinist Emil Zopfi zur Bergleidenschaft von Max Frisch.

Mit Emil Zopfi sprach Daniel Foppa

War Frisch ein guter Bergsteiger?
Frisch war ein Bergwanderer, der auch Hochtouren unternahm. Er war kein Extremalpinist wie die Schriftsteller Ludwig Hohl und Hans Morgenthaler. Aber es zog ihn ein Leben lang in die Berge.

Hatte diese Bergleidenschaft Einfluss auf Frischs Werk?
Das Bergmotiv ist im Gesamtwerk bemerkenswert präsent – von «Antwort aus der Stille» bis zum «Holozän». Für Frisch waren die Berge Ausdruck von Authentizität, auch von Sehnsucht und Aufbruch, wie es für ihn typisch ist. Und sie verkörperten eine Seite der Schweiz, die er nicht kritisieren musste, die Teil seiner Identität war und zu der er sich bei aller Weltläufigkeit hingezogen fühlte. Frisch war Kosmopolit – mit einem Häuschen im Tessin.

Wie steht es um die Qualität von Frischs Bergtexten?
Unter den Bergreportagen gibt es Bemerkenswertes, etwa die Schilderung einer Alpendurchquerung zu Fuss. Gelungen erscheint mir auch die «Kesch»-Episode im «Gantenbein»: Ein Aktivdienst-Soldat besteigt den Piz Kesch, trifft auf einen Deutschen und würde ihn am liebsten über die Felsen stossen. In «Montauk» kommt es zur Abrechnung mit dem Mentor Werner Coninx. Frisch beschreibt eine Wanderung auf den Grossen Aubrig: Coninx mag nicht mehr, Frisch geht weiter. Ein Showdown in den Bergen.

Sie selbst verfassen Bergliteratur und sind damit eine grosse Ausnahme. Weshalb ist das so?
Deutschsprachige Bergliteratur wird gering geschätzt. Das hängt mit vielen kitschigen Büchern über die Erhabenheit der Berge zusammen. Geschadet hat der Alpinliteratur die Vereinnahmung durch die Nazis. Im angelsächsischen Raum war das nicht der Fall. Entsprechend vielfältig ist die Bergliteratur dort.

Emil Zopfi
Der Zürcher (68) hat Romane, Bergmonografien und den Essayband «Dichter am Berg. Alpine Literatur aus der Schweiz» verfasst.

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