DANIEL FOPPA

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Die letzte Zeugin

Ida Bachner* ist eine der letzten in der Schweiz wohnhaften Auschwitz-Überlebenden. Niemand in ihrer Nachbarschaft weiss, dass sie im Konzentrationslager war.
Tages-Anzeiger, 7. Oktober 2015

Daniel Foppa

Und dann stand sie vor Josef Mengele, dem Lagerarzt. In einer Kolonne von Mitgefangenen hatte sich die 12-jährige Ida Bachner dem SS-Doktor genähert, der die Häftlinge musterte und dann nach links oder nach rechts zeigte. Rechts bedeutete: zurück an die Arbeit, links: Tod in der Gaskammer. Als die Reihe an Bachner war, zeigte Mengele nach links. «Mein Schicksal war be­siegelt», sagt die 83-Jährige heute.

Zusammen mit ihrem Mann wohnt Bachner zurückgezogen im Kanton Zürich. Keiner ihrer Nachbarn weiss, dass sie eine Auschwitz-Überlebende ist. Das soll auch so bleiben. «Ich weiss nicht, wie die Leute reagieren würden», sagt Bachner. Hier spricht keine verbitterte Person. Sondern jemand, der die menschliche Natur in ihrer pervertiertesten Form erlebt hat. Und deswegen wachsam und misstrauisch bleibt – selbst in der ereignislosen Biederkeit ­einer Zürcher Vorortgemeinde.

Ihr Überleben verdankt Bachner der Unberechenbarkeit ihrer Schergen. Als Mengele sie nach links schickte, wandte sie sich in gebrochenem Deutsch an den SS-Arzt. «Ich sagte ihm, ich sei stark genug, um zu arbeiten», erzählt sie. Mengele habe ihr zugehört. Und dann nach rechts gezeigt. Ob Mengele aus einer Laune heraus entschied oder ob es die deutsche Sprache war: Was ihn zu seinem Entscheid bewogen hat, weiss Bachner nicht. An Vorsehung oder dergleichen glaubt sie nicht. Sie ist keine ­religiöse Jüdin, nimmt am Leben der Gemeinde nicht teil. Nur einmal pro Jahr, zu Jom Kippur, besucht sie die Synagoge und das Grab ihres Vaters auf dem jüdischen Friedhof in Prag. Dort, wo Franz Kafka bestattet wurde. Und wo auch Bachner einst begraben werden will.

Nummer 71 978

Aufgewachsen ist Bachner als Einzelkind in Svihov, 150 Kilometer von Prag entfernt. Der Vater ist Inhaber einer Wäschefabrik und stirbt bei einem Autounfall, als Ida vier Jahre alt ist. Mutter und Tochter ziehen nach Prag, wo sie 1939 die deutsche Besetzung erleben. Auch die Bachners müssen den Judenstern tragen und erhalten im Juni 1942 die Aufforderung zur Deportation. Erwachsene dürfen 50 Kilogramm Gepäck mitnehmen, Kinder die Hälfte. Zusammen mit der Mutter kommt Ida nach Theresienstadt, 18 Monate später nach Auschwitz. Tschechische Häftlinge flüstern den Neuankömmlingen zu, sie sollen sich keinesfalls krank melden, «sonst kommt ihr ins Gas». Die Bachners überstehen die Selektion – die 11-Jährige bloss, weil ihre Mutter von Beginn weg das Alter ihrer Tochter zu hoch angegeben hat.

Mutter und Tochter werden in einer Holzbaracke mit dreistöckigen Bettgestellen untergebracht. Aufseher schneiden ihnen die Haare ab und tätowieren ihnen eine Nummer in den Unterarm. Aus Ida Bachner wird 71 978, aus der Mutter 71 979. Kurze Zeit später wird Ida von der Mutter getrennt und in einen Kinderblock verlegt. Ihr Alltag ist geprägt von stundenlangem Appell, dem Warten auf die tägliche Ration Suppe und der Angst, dass der Block voll wird – und eine neue Selektion nötig macht.

Bachners Mutter wird immer schwächer. Im März 1944 stirbt sie. «Ein paar Frauen trugen meine Mutter aus der ­Baracke und legten sie in den Schnee. Sie blieb dort etwa zwei Wochen liegen», sagt Bachner. Die Tochter besucht die tote Mutter immer wieder, spricht mit ihr, wischt ihr den Schnee vom Gesicht. Bis irgendwer den Körper entfernt hat.

Der traurigste Tag

Nach der Selektion durch Lagerarzt Mengele kommt Bachner in das Frauenlager. Sie muss in den Buna-Werken als Hilfsarbeiterin Schnüre zusammendrehen. Im Juli 1944 wird sie ins KZ Stutthof bei Danzig verlegt, wo sie Feldarbeit zu leisten hat. Als die Front näher rückt, wird sie zusammen mit den anderen Häftlingen auf einen Todesmarsch nach Westen geschickt. Am 24. Januar 1945 fliehen schliesslich die Bewacher, und Bachner ist frei: 12-jährig, 25 Kilogramm schwer, ohne jede Bezugsperson, irgendwo in Polen.

«Der Tag der Befreiung war der traurigste Tag meines Lebens», sagt sie. Drei tschechische Häftlinge kümmern sich um Bachner. Sie helfen ihr, nach Prag zurückzukehren. Als sie ihre Wohnung aufsucht, wohnen dort die früheren Nachbarn. Sie kennen Ida, öffnen ihr aber nicht. Ein Onkel und ein Cousin sind die einzigen Überlebenden der ­Familie. Ida kommt ins Waisenhaus, dann in ein katholisches Internat. Sie besucht die Handelsschule und lässt sich zur Laborantin ausbilden. 1963 heiratet sie, die Ehe bleibt kinderlos.

Nach der Niederschlagung des Prager Frühlings 1968 finden die Bachners Asyl in der Schweiz. Der Mann arbeitet als Bankangestellter, Ida als Krankenschwester. Meistens bleibt das Ehepaar unter sich. «Unser Bekanntenkreis ist sehr bescheiden», sagen sie. Das mittelständische Leben der Bachners hat sich in den letzten 40 Jahren kaum verändert. Vereinzelt tritt Ida Bachner vor Schulklassen auf, erzählt ihre Geschichte. Sie freut sich zwar über die Briefe, die ihr die Schüler danach schreiben. Aber, so scheint es, eine grosse Wirkung verspricht sie sich nicht davon. «Der Antisemitismus nimmt zu», sagt Bachner. Wichtiger, als zu warnen, ist ihr, nicht aufzufallen.

Ida Bachner ist eine der letzten Personen in der Schweiz mit einer Häftlingsnummer aus Auschwitz. Mit den Zeitzeugen geht auch das Wissen um die Bedeutung dieser Nummer zunehmend dahin. «Ich wurde schon gefragt, ob wir uns im Spitallabor in Prag tätowieren lassen mussten», sagt Bachner. Und als eine Gemeindeangestellte sie fragte, was das für ein Tattoo sei, erwähnte Bachner Auschwitz – was der jungen Schweizerin nichts sagte. Hat sie nie daran gedacht, die Nummer wegzumachen? «Als ich jünger war schon. Doch es fehlte das Geld.» Später wurde sie im Spital von einer Ärztin gefragt, ob sie die Nummer entfernen lassen wolle. Bachner lehnte ab, die Nummer sollte bleiben. «Sie ist keine Schande für mich. Sie ist eine Schande für jene, die sie angebracht haben.»

* Name geändert

 

Stiftung

Hilfe für Überlebende

2015 wird der Befreiung von Auschwitz durch die Rote Armee am 27. Januar 1945 gedacht. In der Schweiz unterstützt die Gamaraal Foundation die hier wohnhaften 86 armuts­betroffenen Holocaust-Überlebenden. Zudem setzt sich die Stiftung für die Förderung von Holocaust-Erziehung und die Genozid-Prävention ein. Gründerin ist die Zürcherin Anita Winter, selber Tochter von Holocaust-Überlebenden. «Wir helfen Menschen, die unermesslich gelitten haben», sagt sie. Schicksale von Überlebenden sind festgehalten in der vom Aussendepartement edierten Schriftenreihe «Memoiren von Holocaust-Überlebenden». Einzelbände sind gratis online bestellbar. (daf)

gamaraal.org eda.admin.ch (Publikationen)

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