Daniel Foppa
Diese Geschichte beginnt im Bündner Oberland, in der Gegend um Disentis. Hier wird 2021 ein junger Grauwolf geboren: M237 heisst das Männchen, das zusammen mit fünf anderen Jungtieren im Stagias-Rudel aufwächst. Sein Name zeugt von der betonten Nüchternheit, mit der Wildtierbiologen das emotionale Thema Wolf angehen. Wird ein Schaf gerissen und zur Hälfte gefressen, so heisst es, das Tier sei «genutzt» worden. Schiessen die Wildhüter einen Wolf, spricht man von einer «Entnahme». Und kommt ein Jungtier zur Welt, erhält es einen Namen, der an Lebensmittelfarbe erinnert.
Als M237 ein Jahr alt ist, passen ihn die Wildhüter ab. Sie narkotisieren den jungen Wolf mit einem Spezialgewehr und legen ihm ein Halsband mit GPS-Sender an. Den Experten ist von da an immer bekannt, wo sich das Tier aufhält. Die GPS-Daten sind inzwischen zum Politikum geworden, wie alles, was in Graubünden mit dem Wolf zu tun hat. So fordert ein Vorstoss im Grossen Rat, diese Daten zu veröffentlichen. Die Experten warnen: Sie befürchten, dass das Tier zur Touristenattraktion und vor allem zur leichten Beute für Wolfsgegner werden könnte.
Wenn Wölfe zwischen ein und drei Jahre alt sind, verlassen sie ihr Herkunftsrudel. Bei M237 ist das am 9. Juni 2022 der Fall: Das Jungtier überquert nördlich der Greina-Hochebene den Sumvitger Rhein, vorbei am Geisterhotel Tenigerbad, das seit 45 Jahren leer steht und so fehl am Platz wirkt, wie der Wolf sich hier vorkommen mag. Denn von nun an ist er auf Wanderschaft, ein Getriebener auf der Suche nach einem Territorium, wo er sich paaren und neue Jagdgebiete erschliessen kann. Es ist ein Aufbruch ohne Wiederkehr; sein angestammtes Gebiet wird er nie mehr sehen.
M237 durchstreift zunächst das Gebiet des benachbarten Val-Gronda-Rudels, doch hier kann er nicht bleiben. «Ein intaktes Rudel toleriert es nicht, wenn ein neuer Wolf dazustösst», sagt Nina Gerber. Die Wildtierbiologin arbeitet für die Stiftung Kora, welche die Bestände der Grossraubtiere in der Schweiz überwacht. Weshalb es M237 konsequent nach Osten zieht und warum er wie ein Forrest Gump auf vier Pfoten immer weiter läuft, weiss jedoch auch die Spezialistin nicht.
Man könnte meinen, der Wolf habe ein Ziel vor Augen. «M237 läuft in Richtung der Wolfspopulation in den Karpaten. Aber wir können uns nicht vorstellen, dass dies von Beginn an sein Ziel war», sagt Gerber. Immerhin sind die Karpaten über 2000 Kilometer entfernt, und Wölfe seien ja keine Zugvögel, die seit Generationen auf denselben Routen nach Süden ziehen. Woran er sich aber orientiere, bleibe rätselhaft. Wie so vieles an diesem Wildtier, das seit Jahrhunderten unsere Phantasie anregt.
M237 jedenfalls zieht es immer weiter. Mit dem Hinterrhein und der A 13 stellen sich ihm die ersten grösseren Hindernisse in den Weg. Er meistert sie ohne Probleme. Wölfe können schwimmen, sind aber vor allem Opportunisten: Sie nutzen Brücken, wo vorhanden, oder queren Strassen gerne dort, wo sie in einem Tunnel durch den Berg führen.
Bis zu 50 Kilometer pro Tag
An Davos vorbei und durch das Unterengadin gelangt der Wolf an die Grenze zu Italien, die er am 27. Juni überquert. 18 Tage ist er bis jetzt unterwegs. Im Schnitt läuft M237 etwa 6,5 Kilometer pro Tag, ernährt sich vor allem von Rehen und Hirschen. Meistens wandert er in der Nacht, mit Vorliebe auf Wegen und sogar auf Strassen. Dann sind auch Tagesetappen von 50 Kilometern möglich.
In Italien stockt die Reise zum ersten Mal. Der Wolf ist am Reschensee angekommen, wo einst die Bevölkerung vertrieben wurde, damit man ein Kraftwerk bauen konnte. Nur noch der alte Kirchturm von Graun ragt aus dem Stausee. Schlagerstars besingen den Ort als «Atlantis der Berge», Touristiker vermarkten den Turm als Fotosujet, und M237 hat ein Problem. Er läuft am Ufer des Sees auf und ab und findet offenbar keinen Weg um das Hindernis herum.
Zwei Tage dauert es, bis der Wolf den Reschensee südlich umgehen kann und wieder in gewohnter Richtung weiterwandert. Er steigt bis auf 3500 Meter hoch und überquert den Gepatschferner, den zweitgrössten Gletscher Österreichs. Wieso diese Kletterei, wenn er doch hindernisfrei durch das Vintschgau Richtung Süden ziehen könnte? «Wir wissen es nicht», sagt die Wildtierbiologin Gerber. Erwiesen sei aber, dass Wölfe bei ihren Abwanderungen eher anspruchslos seien.
Ende Juli gelangt der einsame Wanderer ins Ötztal und bleibt über einen Monat lang beim Piburger See. Er scheint intensiv zu prüfen, ob sich das idyllische Gebiet eignet, um heimisch zu werden – ob er hier ein Weibchen findet und ausreichend Beute. Letzteres ist der Fall, denn 164MATK, so wird der aus der Schweiz eingewanderte Wolf hier genannt, wird in dieser Zeit für mehrere Schafrisse verantwortlich gemacht.
Im touristisch stark genutzten Gebiet jedenfalls ist man froh, dass der Wolf Mitte September weiterzieht. Über Kühtai gelangt er nach Innsbruck, folgt der Brenner-Autobahn nach Süden und findet bei Schönberg im Stubaital einen Weg, die dicht befahrene Strasse zu überqueren. Oft endet an solchen Stellen die Abwanderung eines Wolfs. M237 aber schafft es unversehrt über die europäische Verkehrsachse, über die pausenlos Lastwagen donnern, 2,6 Millionen pro Jahr, bremsen für Wildtiere unmöglich.
An Bischofshofen vorbei geht es ins Salzkammergut. Und je mehr der Wolf in dicht besiedeltes Gebiet gelangt, desto heftiger fallen die Reaktionen aus. Wie der örtliche Bezirksjägermeister Hans Trinker der «Kleinen Zeitung» erklärt, wurden wegen des Einwanderers aus Graubünden Vorsichtsmassnahmen getroffen: «Hegemeister, Berufs- und Aufsichtsjäger sind zu einer Nachrichtengruppe zusammengeschlossen und stehen in laufendem Kontakt mit Wolfsexperten, um Beobachtungen und Reaktionen des Rotwildes genau zu erfassen und Risse zu untersuchen.»
Doch auch behördlicher Aktivismus hält M237 nicht auf. Durch den Nationalpark Gesäuse zieht er in die Gegend von Wien, wo er am Jahresende eintrifft. Hier scheint sich der Wolf zum ersten Mal nicht sicher zu sein, wohin er will. Am 12. Januar stösst er nördlich der Metropole bis an das Ufer der Donau vor – doch kehrt er wieder um. Einen knappen Monat streift er durch die ausgedehnten Wälder, die hier bis an die Tore der Stadt reichen. Er tappt in Fotofallen, die Medien berichten, und die Reaktionen in der Öffentlichkeit sind heftig. Laut dem Bezirksjägermeister Werner Spinka ist der Wolf vermutlich für zwei gerissene Rehe verantwortlich. Zudem habe er das Rotwild derart umgetrieben, dass bei einer Hochwildfütterung die Holztische umgeworfen worden seien. Das geht zu weit: Die Politik greift den Fall auf und diskutiert darüber, den Wolfsschutz zu lockern.
Der Wolf indessen ist schon weiter. Anfang Februar überquert er südlich des Neusiedler Sees die Grenze zu Ungarn. Er hält sich in den Wäldern des Schildgebirges auf, reisst wahrscheinlich ein paar Wildschweine, von denen es gemäss Lokalpresse mehr als genug gibt, passiert Székesfehérvár, die «Stadt der Könige», und trappelt auf geradem Weg Richtung Budapest.
Während mehrerer Tage fällt in dieser Gegend das GPS-Signal aus, es ist Ende Februar, und die Experten in der Schweiz sind besorgt, dass ihm etwas zugestossen sein könnte. Denn inzwischen verfolgen auch die ungarischen Medien den Wolf. Je reisserischer das Blatt, desto grösser die Schlagzeilen, ob Wolf oder Mensch, vor Migranten wird in diesem Land immer gewarnt: Der «Schweizer Wolf», so wird M237 genannt, «das blutige Raubtier», treibe im Süden der Stadt sein Unwesen, heisst es, worauf in den Kommentarspalten darüber gestritten wird, ob er eine Gefahr für Kinder sei, worauf einer ein Bild einer Schrotflinte postet.
Verloren in Budapest
Sicher ist: Diese Gegend in den südlichen Aussenbezirken der 1,8-Millionen-Stadt ist kein guter Ort für M237, kein Wolfsrevier; es ist Tesco- und Ikea-Land, Ersatzteillager reihen sich an Möbeldiscounter, Autobahnen vernarben das Gebiet, Zäune versperren den Weg, dazwischen einzelne Wohnsilos aus der Sowjetzeit und jede Menge Abfall, der in den Büschen entlang der Strasse vermodert und von dem sich M237 wahrscheinlich ernährt: Chipstüten, Kohlrouladen, Speckschwarten.
Es scheint, als würde der Wolf einen Weg durch den Grossstadtdschungel suchen, um es auf die andere Seite der Donau zu schaffen, dieses stolzen Flusses, der von der Quelle bis zum Delta am Schwarzen Meer nur wenig länger ist als der Weg von M237 von Graubünden bis zu den Karpaten.
Doch im Ballungsraum Budapests scheint er wie schon in der Gegend von Wien unsicher, es ist nicht sein Habitat, er geht vor und zurück, streift das Gebiet um den Kleinflughafen Farkashegy – zu Deutsch: Wolfsberg –, wird von Wildhütern gesichtet und findet am 19. März bei Dunabogdány den perfekten Ort, um die Donau zu überqueren, denn hier teilt sie sich in zwei schmalere Ströme.
Als würde er sein Ziel kennen, steuert er den Nordosten Ungarns an, die Stadt Salgótarján und dahinter die Karpaten, deren Vegetation und Tierwelt den Alpen ähnelt. Hier leben Luchse, auch Bären und viele Wölfe, die Chance, ein Weibchen zu finden, ist hoch.
M237 kommt gelegen, dass sich Ungarn immer mehr entvölkert, viele Menschen ziehen auf der Suche nach Arbeit aus den Dörfern weg. Er trifft auf verwaiste Bauernhöfe, Kirchenruinen, von Unkraut überwucherte Spielplätze und wird im Bezirk Nógrád entdeckt, einem hügeligen Gebiet an der Grenze zur Slowakei.
Es ist jetzt Ende März, M237 hat 1970 Kilometer in den Knochen, das ist die längste bisher bekannte Wolfswanderung in Europa. Seine aktuellen GPS-Daten werden nicht veröffentlicht. Die Experten aus der Schweiz haben wohl Angst vor wild gewordenen Anwohnern oder Bauern, denen er das eine oder andere Huhn riss und die mit ihm kurzen Prozess machen würden, obwohl Wölfe auch in Ungarn unter Schutz stehen und ein Abschuss bestraft würde, aber wer soll das schon kontrollieren in dieser ländlichen Gegend nördlich der Stadt Eger.
Gut möglich, dass M237 bereits im grössten Nationalpark Ungarns angekommen ist, im Bükk-Gebirge, auch «grüne Lunge des Landes» genannt. Hier findet er Höhlen, Wasserfälle, die Thermalbäder mit ihrem Schwefelgestank werden ihn nicht interessieren, aber die Rehe und das Schwarzwild schon.
Im Bükk-Nationalpark leben auch Wölfe, mit ein wenig Glück findet er hier eine Weggefährtin, aber vielleicht zieht es ihn weiter Richtung Karpaten, wo er sich dann endgültig paaren und niederlassen sollte. Denn dahinter, da kommt die Ukraine, da kommt irgendwann der Krieg, kommen Putins Minen in den Wäldern, die M237 zerfetzen würden.
Der Mensch ist des Menschen Wolf. Diese Erfahrung bleibt ihm hoffentlich erspart.