DANIEL FOPPA

Der Wahlkampf ist besser als sein Ruf

Der Wahlkampf ist besser als sein Ruf

Das alle vier Jahre wiederkehrende Gejammer über den unpolitischen Wahlkampf ist ermüdend – und lenkt von der besonderen Herausforderung ab, die sich in diesem Wahljahr stellt.
NZZ am Sonntag, 20. August 2023

Daniel Foppa

Er tat mir leid, der Präsident dieser bürgerlichen Partei. Ehrlich bemüht sass er zusammen mit Parteikollegen vor den Bundeshausmedien und referierte zur Reform der Altersvorsorge. Gekommen waren vier Journalisten, einer davon ein Fotograf. «Würde ich auf dem Bundesplatz den Handstand machen, wären mehr von euch erschienen», sagte der Parteichef leicht angesäuert. Er hatte recht. Und dabei befanden wir uns an jenem Herbsttag vor zwanzig Jahren mitten in der heissen Phase der Nationalratswahlen.

Nun haben sich die Zeiten geändert, Parteipräsidenten sind inzwischen für alles zu haben – vom gemeinsamen Kochen vor laufender Kamera bis zur Sport-Challenge in den sozialen Netzwerken. Nicht geändert hat sich hingegen das alle vier Jahre wiederkehrende Lamentieren über den inhaltslosen Wahlkampf. Der Schriftsteller Peter Bichsel trat erbost aus der SP Solothurn aus, als diese mit dem Slogan «kussecht und vogelfrei» in den Wahlkampf zog. Das war 1995. Vier Jahre später diagnostizierte die «Basler Zeitung» vor den Wahlen eine «Entpolitisierung und Amerikanisierung der Politik». Ähnlich hört es sich seither in jedem Wahljahr an.

Was es brauchen würde, damit sich das Wehklagen legt, ist dabei nicht ganz klar. Eine nationale Grossdebatte, ein omnipräsenter Schlagabtausch der Parteien oder Medien, die sich ganz der Kandidatenkür verschreiben? Man weiss es nicht. Was hingegen klar ist: Es liegen keine politikwissenschaftlichen Befunde vor, wonach Oberflächlichkeit und Entpolitisierung die Nationalratswahlen der letzten Jahrzehnte prägten. Lustige Wahlvideos und dergleichen sind Mobilisierungsmassnahmen, die den politischen Wahlkampf ergänzen, nicht ersetzen. Und auch das grosse Kandidatenfeld sowie die seit Ende der siebziger Jahre relativ stabile Wahlbeteiligung liefern keine Hinweise, dass sich die Bevölkerung desinteressiert abwenden würde.

Es gibt zwar national dominierende Themen wie die Klimadebatte vor vier Jahren oder die Zuwanderung in diesem Jahr. Die Wahlkampagnen werden aber in den Kantonen geführt, und das Schaulaufen der Kandidierenden hat sich vom Saal der Dorfbeiz ins Netz verlagert. Das alles mag auf den ersten Blick weniger sichtbar sein, inhaltsleer ist es nicht.

Alles wie gehabt also? Nein – diese Wahlen finden tatsächlich unter anderen Vorzeichen statt. Denn eine Legislatur geht zu Ende, die wie keine andere seit dem Zweiten Weltkrieg von Krisen und Notrecht geprägt war. Die Corona-Pandemie, der Ukraine-Krieg und die Klimakrise haben zu nachhaltigen Erschütterungen geführt, das Ende der CS trifft dieses Land ins Mark. Wenn aber Undenkbares plötzlich Realität wird, kommt Grundsätzliches ins Wanken. Das betrifft auch die politische Kultur.

Nun ist auch die Klage über die Verrohung der politischen Kultur so alt wie diese Kultur selbst. Doch es gibt Hinweise, dass es im öffentlichen Diskurs tatsächlich zu Verschiebungen gekommen ist. Weltweit ist der Populismus auf dem Vormarsch, Demokratien sind unter Druck, Politikerinnen und Politiker berichten von zunehmenden Bedrohungen. Auch in der Schweiz nehmen Gruppierungen an den Wahlen teil, die sich im Widerstand zum politischen System sehen. So erklärte die Bewegung «Mass-voll» nach der verlorenen Corona-Abstimmung von 2021, das Ergebnis sei wegen massiver Unregelmässigkeiten illegitim und für sie nicht bindend. Das erinnert an Donald Trump, dem sein kontrafaktisches Gerede nicht zu schaden scheint.

Auf der anderen Seite des Politspektrums greifen sogenannte Klimabewegte zunehmend zu Formen des ausserparlamentarischen Widerstands und schrecken vor Nötigung nicht zurück. Beiden Bewegungen gemeinsam sind das Misstrauen gegen die Institutionen, eine Wut auf die etablierten Parteien – und eine bemerkenswerte Bereitschaft zum Engagement.

Das Problem der hüben wie drüben verbreiteten Botschaften ist denn auch nicht, dass sie entpolitisiert wären. Sondern dass sie die Realität bisweilen grotesk verzerren oder dazu aufrufen, das Recht selbst in die Hand zu nehmen.

An den politischen Rändern ist eine Wählerschaft entstanden, die irrationalen Argumenten zugänglich scheint und die politischen Spielregeln geringschätzt. Auch wenn ihre Anzahl überschaubar ist, muss man das Phänomen ernst nehmen. Denn gerade ein direktdemokratisches System ist auf einen möglichst vernunftgeleiteten Diskurs angewiesen.

Deshalb sollte der Wahlkampf genutzt werden, um diese Gruppierungen stärker als bisher in den Wettstreit der Argumente einzubinden. Der Aufstieg so mancher ausländischer Protestbewegung zur einflussreichen politischen Kraft wurde dadurch begünstigt, dass sie nicht ernst genommen, ausgegrenzt und den eigenen Echokammern überlassen wurde.

Unser politisches System hat sich bisher durch eine ausserordentliche Integrationskraft ausgezeichnet. Es ist nicht allein der Wohlstand, der das Land vor grösseren Zerwürfnissen bewahrt hat – sondern der Wille zur Koexistenz und der im direktdemokratischen System nahezu pausenlos geöffnete Marktplatz der politischen Ideen.

Anstatt darüber zu lamentieren, dass wieder einmal inhaltsleere Ware auf diesem Marktplatz angeboten wird, sollten wir versuchen, möglichst alle Anbieter von seinen Vorzügen und Spielregeln zu überzeugen. Und politische Debatten bewusst auch über die eigene Bezugsgruppe hinweg führen – sei es beim gemeinsamen Kochen oder sonst wo. Das ist in diesen Zeiten nötiger denn je.

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