Daniel Foppa
Auftritt der Bürgermeister. Im roten Samtjackett steht Christian Jott Jenny im Konferenzsaal des Luxushotels Suvretta House und wendet sich an das Publikum. Für den Operntenor eine gewohnte Rolle – nur dass er diesmal zu den Teilnehmern einer internationalen Blockchain-Konferenz spricht. Jenny gibt gar nicht erst vor, vom Thema etwas zu verstehen. Trotzdem schafft er es, dass die Zuhörer ihre Smartphones zur Seite legen. «Ich bin jetzt seit drei Wochen Bürgermeister», sagt Jenny und muss selber lachen.
Er schlägt die Brücke von den Tourismus-Pionieren in St. Moritz, wo 1879 die erste Glühbirne der Schweiz brannte, zu den Pionieren der neuen Technologie. Spricht von Neugierde und Innovation. Und kann sich mit Blick auf die gedämpfte Blockchain-Euphorie die maliziöse Bemerkung nicht verkneifen, er hoffe, dass auch nächstes Jahr noch Blockchain-Konferenzen stattfinden werden. Mit Vorteil in St. Moritz.
Kunst im See versenken
«Ich habe nicht vor, mich zu ändern», sagt Jenny in seinem arvengetäferten Büro im St. Moritzer Rathaus. Seit Anfang Jahr ist der Zürcher Gemeindepräsident, nachdem er im Herbst überraschend Amtsinhaber Sigi Asprion aus dem Amt gedrängt hat. 72 Stimmen gaben den Ausschlag für Jenny. Die Jungen haben den umtriebigen Gründer des Festival da Jazz St. Moritz gewählt, die Unzufriedenen, aber auch Tourismusleute, die sich neue Impulse und mehr Logiernächte erhoffen. «St.Moritz kann es besser» war Jennys Wahlslogan. Jetzt ist es an ihm, dies zu beweisen.
Eben hat Jenny ein Team von «Vanity Fair» Italien empfangen, zuvor war der TV-Sender RAI Uno da. Es hat sich herumgesprochen, dass im Wintersportort, der schon bessere Zeiten kannte, etwas in Bewegung geraten ist. Eigentlich ist der Tourismusdirektor für die Vermarktung der Destination verantwortlich, aber Jenny scheint derzeit für alles zuständig, was mit St. Moritz zu tun hat.
Beispiele gibt es viele. Ein Künstler hat sich an ihn gewandt mit dem Plan, Kunst im St. Moritzersee zu versenken. «Grossartige Idee! Aber umweltmässig wohl nicht so ideal.» Tyler Brûlé möchte in St. Moritz ein Monocle-Café eröffnen, scheiterte bisher aber an den Besitzern des Gebäudes. «Das darf nicht wahr sein, müssen wir voranbringen!» Die Witwe eines Verstorbenen, dessen Todesurkunde Jenny als Gemeindepräsident unterschrieben hat, bat ihn, an der Beerdigung ein Abschieds-Medley zu singen. «Ich konnte nicht Nein sagen.»
Das grosse Welttheater
Jennys Amtsantritt wirkt so turbulent wie seine Wahl. Und dennoch scheint hier jemand strukturierter an der Arbeit, als man auf den ersten Blick meinen mag. Bereits als Jenny an seinem 40. Geburtstag seine Kandidatur lancierte, taten ihn die Gegner als chancenlosen Chaoten ab. Doch der Aussenseiter führte einen cleveren, auf seine Zielgruppen fokussierten Wahlkampf.
Er gab sich erfrischend bis derb («St. Moritz ist touristisch am Arsch») und wurde gewählt. Auch als Gemeindepräsident kokettiert Jenny mit seinem Image eines Spassvogels, dem es ernst ist. Er fährt mit dem Fiat Panda vor dem Luxushotel vor, lässt in seinem Büro den Schrank durch ein Klavier ersetzen und schmettert am Neujahrsapéro der Verwaltung den Puccini-Evergreen «Nessun dorma». Ist das bloss Polit-Entertainment oder doch mehr?
«Ich bin es gewohnt, dass man mir mit Skepsis begegnet», sagt Jenny, zu dessen Vorbildern der isländische Anarcho-Komiker Jón Gnarr zählt, der 2010 bis 2014 Bürgermeister von Reykjavik war. Jedenfalls hat der Zürcher einen Leistungsausweis als erfolgreicher Entertainer und Kulturmanager vorzuweisen – und eine Fülle von Ideen für St. Moritz: Er denkt an neue Kulturangebote und damit an einen weniger saisonabhängigen Tourismus.
«Hauser & Wirth hat eine Galerie in St. Moritz eröffnet, in Susch entstand soeben ein Museum von Weltrang», sagt Jenny, spricht von Nietzsche in Sils Maria, von Kunstliebhabern und Intellektuellen, die er in noch viel grösserer Zahl anlocken will. «Das Engadin ist prädestiniert dafür, hier findet ein grosses Welttheater statt.» Der neue Gemeindepräsident möchte Immobilienbesitzer überzeugen, leerstehende Lokale kostengünstiger zu vermieten, die triste St. Moritzer Dorfzone beleben und alle Oberengadiner Gemeinden fusionieren.
Von solchen Ideen hält Mario Salis wenig. «Jenny kann in der Politik nur verlieren», sagt der SVP-Lokalpolitiker, der 40 Jahre lang bei der Kantonspolizei gearbeitet hat, zuletzt als Postenchef Südbünden. Bis Ende 2018 sass Salis im St. Moritzer Gemeinderat, nun ist er im Ruhestand und kommt soeben vom Skifahren. Als einer der wenigen übte er von Beginn weg Kritik an Jenny, der St. Moritz schlechtgeredet und alles Mögliche versprochen habe. «Doch die meisten haben ihn völlig unterschätzt.» Natürlich gebe es nun Leute, die wünschten, dass der neue Gemeindepräsident auf die Nase falle. Doch das sei die falsche Haltung; schliesslich sei Jenny demokratisch gewählt, und St. Moritz stehe vor grossen Aufgaben.
«Ich wünsche ihm wirklich, dass es gut kommt», sagt Salis, und man nimmt es ihm ab. St. Moritz brauche ein neues Schulhaus, ein zweites Pflegeheim und endlich eine Talabfahrt ins Dorf. Doch Jenny habe mit seinem populistischen Wahlkampf Gräben aufgerissen, was die Suche nach Lösungen noch schwieriger mache. Zum Glück habe er aber fähige Leute an seiner Seite.
Tatsächlich wählten die Stimmberechtigten neben Jenny vor allem erfahrene Politiker in den Gemeindevorstand und den Gemeinderat. Es schien, dass man dem Politneuling ein Korrektiv zur Seite stellen wollte. Der Vorstand konnte es sich dann nicht verkneifen, als eine der ersten Amtshandlungen Jennys Lohn um 30 000 Franken auf 197 000 Franken zu kürzen. Dies sehe das Personalrecht für Quereinsteiger vor, lautete die leicht skurrile Begründung. Jenny antwortete auf seine Art. Als er mit seinem neuen Programm im Miller’s Studio in Zürich auftrat, gab er Ruedi Walters Hit aus der kleinen Niederdorfoper leicht verändert zum Besten: «Und ganz früsch gwählt, es isch en Hohn, chürzeds mier z allererst de Lohn. Mier mag halt niemmert öppis gunne, niemmert öppis gunne, niemmert öppis gunne.»
Ohnehin ist Jenny weiterhin regelmässig auf Zürcher Bühnen anzutreffen. «Ich bin ein Wanderer zwischen den Welten», sagt der zweifache Vater. Seine Familie wohnt in der Nähe von Zürich, Jenny beim Künstler Rolf Sachs in einer Männer-WG im ehemaligen St. Moritzer Olympiastadion.
Wie in der DDR
Der Sohn von Playboy Gunter Sachs hat unlängst für Empörung gesorgt, als er in einem gemeinsamen Interview mit Jenny und Verleger Jürg Marquard in der «NZZ am Sonntag» sagte, im von Hochhäusern geprägten St. Moritz Bad «bräuchte es mal eine Bombe». Jenny hat im Wahlkampf ähnliche Sprüche geklopft, und auch im Amt kann er es nicht wirklich lassen: «Dort sieht es aus wie in der DDR. Da kann man ‹Good Bye, Lenin!› drehen, ohne etwas zu verändern.»
Dass solche Aussagen bei den Bewohnern des Quartiers, darunter viele Angestellte aus den Tourismusbetrieben, nicht sonderlich gut ankommen, nimmt der Gemeindepräsident in Kauf. «Es ist nicht ihre Schuld, dass es dort so aussieht», sagt Jenny. Doch man müsse die Dinge beim Namen nennen. Zudem: «Mein satirischer Blick ist vor allem Ausdruck meiner Zuneigung.» Es sei jedenfalls eines seiner Hauptanliegen, St.Moritz Bad und Dorf wieder näher zusammenzubringen. «Denn dieser Ort ist mehr als Pelzmäntel und Glamour», sagt Jenny und scheint nicht gewillt, die Rolle des charmanten Provokateurs so schnell abzulegen.
Als der neue Bürgermeister am Schluss der Blockchain-Konferenz im Suvretta House von einem TV-Team gefragt wird, ob er selber auch in die neue Technologie investiert habe, winkt er lachend ab: «Nein, das habe ich nicht. Wissen Sie: Ich bin Musiker, ich bin ein Künstler.» Geändert hat sich nur die Bühne des Christian Jott Jenny. Sie steht neu im Rathaus von St. Moritz.