Daniel Foppa, Grosser Mythen
Den Abschnitt zwischen Kurve 21 und 22 mag er nicht. «Da läuft nichts», sagt Armin Schelbert. Wer in jedem Fall läuft, ist Schelbert selbst. Und zwar mit einer Regelmässigkeit, die etwas Zwanghaftes hat. 1868-mal hat der 67-Jährige den schroffen Berg bei Schwyz bisher bestiegen. Praktisch immer über denselben Weg, der in 46 Kurven zum Gipfel führt. Schelbert hat jede Kurve mit weisser Farbe markiert: gerade Zahlen für Linkskurven, ungerade für Rechtskurven.
Was für den Beobachter gewöhnliche Kurven eines gewöhnlichen Bergpfads sind, ist für Schelbert eine Welt für sich – ein geschichtenreicher Mikrokosmos am Wegrand. Das beginnt bei Kurve 1, wo Schelbert bei einem eiligen Abstieg ausrutschte und vom Weg flog. Er stürzte zwischen Felsen hindurch etwa zehn Meter tief, verletzte sich aber nicht ernsthaft. «Routine führt zu Unachtsamkeit», sagt der Mythen-Besteiger, der mehrere Freunde an diesem Berg verloren hat. Allerdings stürzten sie nicht vom gut ausgebauten Bergweg in die Tiefe, sondern von einer der ungesicherten Aufstiegsvarianten. Schelbert ist auch dort anzutreffen, doch reizen tut ihn diese Abwechslung nicht. «Auch wenn man 1000-mal denselben Weg geht: Jeder Aufstieg ist anders», sagt er, der am Mythen unter dem Namen «der Mensch» bekannt ist.
Spektakulärer Überschlag
Begonnen hat Schelberts Passion 1999. Als Gleisbauer, der in der Nacht arbeitete, wanderte er zum Ausgleich nachmittags in der Mythen-Gegend rum. Da riet ihm sein Kumpel Peter Gujer, er solle doch den Gipfel besteigen. Gujer war Koch und musste wie Schelbert abends arbeiten. «Wir konnten keinem Verein beitreten», sagt Schelbert. So wandten sie sich dem Mythen zu. Der 65-jährige Gujer hatte bereits 1971 begonnen, seine Besteigungen zu zählen. Irgendwann hat er damit aufgehört und schätzt, dass er bisher etwa 3000-mal auf dem Gipfel gestanden ist.
Gujer und Schelbert sind die zwei letzten Mitglieder des 100er-Clubs, einer Vereinigung von Mythen-Freunden, die den Berg jedes Jahr mindestens 100-mal besteigen. Dass der Club nie viel grösser war, erstaunt kaum. Der Bergweg ist nur gut sechs Monate offen. Wer in dieser Zeit 100-mal den Mythen besteigen will, muss fast jeden zweiten Tag oben stehen. Schelbert ist die 495 Höhenmeter zum Gipfel auch schon achtmal an einem Tag hinaufgestiegen – mit Lasten beladen für die Gipfelbeiz oder im Laufschritt in eindrücklichen 35 Minuten.
Wer Schelbert zuhört, hat das Gefühl, am Mythen sei der Bär los. Er erzählt vom verborgenen Tierbeobachtungsposten bei Kurve 17, von seinem spektakulären Überschlag bei Kurve 20, der Steinbank, die ein Verehrer bei Kurve 29 einer unbekannten Daisy hingestellt hat, und der Madonnastatue bei Kurve 32, wo ein Alt-Regierungsrat an einem Herzinfarkt gestorben sei. Bei Kurve 22 zweigt der anspruchsvolle Schafweg ab, von dem immer wieder Wanderer aus Bergnot gerettet werden müssen, und bei Kurve 34 findet sich eine Felshöhle, in die sich Schelbert bei Gewitter rettet. Trotzdem hat ihn dort einst ein Blitz zu Boden geschleudert.
Weg durch die Totenplangg
Nach Kurve 37 pflegt er jeweils auf dem alten Weg durch die Totenplangg zum Gipfel zu steigen. Der Pfad führt durch eine gefährlich abschüssige Grashalde. An einer Felswand hat Schelbert dort die Namen früherer Freundinnen verewigt, wie er schmunzelnd zeigt. Überhaupt sind Schelbert und Gujer stets zum Albern aufgelegt. So hat Gujer bei allen Kurven mit der Ziffer 7 goldfarbene Münzen deponiert und weist Wanderer auf die bemerkenswerten Goldadern am Mythen hin. Oder er trägt Tannzapfen auf den baumlosen Gipfel und erklärt Touristen, die habe der Sturm Lothar hochgeblasen.
Der Mythen sei «ein Stück meines Lebens», sagt Schelbert, der mit seiner Frau in Hinwil ZH wohnt. Den Sommer verbringt er allein in einer Wohnung am Fuss des Mythen. Vor vier Jahren musste er sich ein künstliches Kniegelenk einsetzen lassen, was seine Beweglichkeit jedoch nicht beeinträchtigt. Arzt und Therapeut bestiegen nach der Genesung mit Schelbert den Mythen. Auch sie wollten den Berg kennen lernen, der ihren Patienten magisch anzieht.
So regelmässig wie die 46 Kurven in seinem Tagesablauf kehrt die Frage wieder, weshalb er denn immer auf denselben Berg steige. Steckt womöglich mehr dahinter als ein blosser Spleen, ein meditatives Mittel zur Selbstversenkung gar? Schelbert sieht das nüchtern: «Immer denselben Weg zu gehen, ist stressfrei. Ich muss mich um nichts sorgen, kann einfach losgehen und weiss: Hier bin ich richtig.» Während er dies sagt, kann man sich den Mythen-Besteiger plötzlich vorstellen, wie er als eine Art alpiner Zen-Meister nervösen Stadtmenschen das Glück der Monotonie näherbringt. Schelbert indes winkt ab: «Dafür braucht es keinen Kurs. Sondern einen harten Grind. Der Rest kommt von alleine.» Sagt es und steigt den Berg hoch, von dem er eben runtergekommen ist.