Daniel Foppa
Diese Karriere ist atemberaubend: vom Laientheologen in Sursee zum derzeit einflussreichsten deutschsprachigen Kardinal im Zentrum der katholischen Kirche. Kurt Koch ist im Vatikan zuständig für das Verhältnis zur Ostkirche und hat regelmässig mit dem russischen Patriarchen Kyrill verhandelt. Wenn der Papst einen Friedensappell lanciert oder Religionsführer trifft, ist Kurt Koch an seiner Seite. Entsprechend beansprucht ist der frühere Bischof von Basel in diesen Kriegszeiten. Eben ist er mit dem Papst vom Weltkongress der Religionen aus Kasachstan zurückgekehrt. Der Kardinal empfängt uns an seinem Amtssitz an der Via della Conciliazione in der Nähe des Petersdoms.
Herr Kardinal, der russische Patriarch Kyrill legitimiert den Angriffskrieg gegen die Ukraine. Sie kennen Kyrill gut, wie beurteilen Sie sein Handeln?
Kurt Koch: Patriarch Kyrill ist der Überzeugung, es sei die besondere Sendung Russlands, die christlichen Werte gegenüber dem dekadenten Westen zu schützen. Dies hat er jeweils betont, wenn ich bei ihm in Moskau war. Er schlug eine strategische Allianz zwischen Moskau und Rom zur Verteidigung dieser Werte vor. Auf einen solchen militärischen Begriff bin ich aber nicht eingetreten. Ich kannte also Kyrills Vorstellungen. Trotzdem hätte ich nicht damit gerechnet, dass er so weit geht und diesen Angriffskrieg legitimiert. Dies hat mich sehr überrascht.
Wie haben Sie den Patriarchen jeweils im direkten Gespräch erlebt?
An sich ist Patriarch Kyrill eine nette Persönlichkeit, und ich hatte immer einen guten Draht zu ihm. Er legte beispielsweise viel Wert darauf, dass ich an der Feier zu seinem 70. Geburtstag in Moskau teilnehme. Schwierig war jedoch, dass Kyrill bei jeder Begegnung die griechisch-katholische Kirche in der Ukraine kritisierte. Diese Kirche hat gut vier Millionen Mitglieder und anerkennt den Papst als Oberhaupt. Unter Stalin war sie verboten, ihre Bischöfe mussten orthodox werden. Doch die Kirche überlebte im Untergrund, und seit der Unabhängigkeit der Ukraine kann sie ihren Glauben wieder öffentlich leben. Patriarch Kyrill hat ihr vorgeworfen, orthodoxe Gläubige abzuwerben. Ich habe das jeweils zurückgewiesen.
Ein paar Wochen nach Kriegsausbruch haben Sie zusammen mit dem Papst vierzig Minuten lang mit Kyrill in einem Video-Telefonat gesprochen. Wie muss man sich ein solches Gespräch vorstellen?
Zunächst hat der Papst dem Patriarchen das Wort erteilt und ihn gebeten, seine Sicht des Krieges darzulegen. Kyrill sprach dann ausführlich von schlimmen Übergriffen der Ukrainer auf Russen im Donbass, wodurch der Krieg unausweichlich geworden sei.
Wie hat der Papst reagiert?
Der Papst trat nicht auf diese Vorwürfe ein. Er machte klar, dass Bischöfe Hirten des Volkes und keine Staatskleriker sind. Und dass es ihr Anliegen sein muss, dass der Krieg beendet und Frieden ermöglicht wird.
Nach dem Gespräch hat der Papst in einem Interview gesagt, Kyrill müsse aufpassen, nicht Putins Ministrant zu werden.
Das bezog sich auf das unterschiedliche Verständnis, das man im Osten und im Westen von der Beziehung zwischen Religion und Staat hat. Im Westen setzte sich im Verlauf der Jahrhunderte die Trennung von Kirche und Staat durch, in der Orthodoxie ist bis heute die sogenannte «Symphonie» von beiden wirksam.
Sie haben den Papst letzte Woche zum Weltkongress der Religionen in Kasachstan begleitet. Ein Vertreter Kyrills sagte dort, ein Treffen zwischen dem Papst und dem Patriarchen könnte in der jetzigen Weltlage «nützlich» sein. Was kann der Papst für den Frieden tun?
Der Papst hat angeboten, nach Moskau und nach Kiew zu reisen, wenn das dem Frieden dient. Franziskus hat Kyrill ja 2016 in Havanna getroffen, das war die erste Begegnung der Oberhäupter der katholischen und der russisch-orthodoxen Kirche in der Geschichte. In einer gemeinsamen Erklärung wurden bereits damals alle Konfliktparteien in der Ukraine zur Besonnenheit und zum Frieden aufgefordert. In Kasachstan hat der Papst seinen Friedensappell wiederholt: Religionen dürfen sich niemals in den Dienst weltlicher Macht stellen und niemals zu Gewalt aufrufen.
Steht denn eine Reise des Papstes nach Moskau oder nach Kiew bevor?
Bisher gab es auf das Angebot des Papstes weder von Putin noch vom Patriarchen eine konkrete Rückmeldung. Und von einer Zugreise nach Kiew raten derzeit die Ärzte ab. Der Papst ist zwar voller Tatendrang, aber sein Knieleiden zwingt ihn immer wieder in den Rollstuhl.
Womöglich wäre der Papst in Kiew gar nicht so willkommen. In einem Interview hatte er gesagt, vielleicht habe «das Bellen der Nato an Russlands Tür» Putin veranlasst, den Konflikt auszulösen.
Der Papst hat den Angriff auf die Ukraine seit dem ersten Tag als Unrecht bezeichnet und immer wieder an Russland appelliert, die Gewalt zu beenden. Mit diesem Interview wollte er auf keinen Fall sagen, dass die Nato Urheber des Krieges sei, das wäre absurd. Aber meiner Ansicht nach ist es auch legitim, gewisse Fragen an das Verhalten der Nato zu stellen – ohne, dass man damit Russland unterstützt.
Auch in der Schweiz wird viel über die Haltung zum Krieg diskutiert. Ist es moralisch vertretbar, bei einem solchen Krieg neutral zu sein?
Wenn Neutralität heisst, sich so zu verhalten, dass man eine Vermittlerposition für den Frieden einnehmen kann, dann ist Neutralität eine gute Sache. Das ist auch die Position des Vatikans. Neutralität darf aber nicht heissen, abseitszustehen und möglichst nichts mit der Sache zu tun haben zu wollen.
Sind Waffenlieferungen an die Ukraine aus Ihrer Sicht in Ordnung – oder wäre die christliche Haltung jene eines strikten Pazifismus?
Ein absoluter Pazifismus, der zuschaut, wie Gewalt angewendet wird, ist nicht christlich. Wenn ungerechte Gewalt geschieht und ich eingreifen kann, muss ich eingreifen. Der Papst hat auf der Rückreise von Kasachstan Waffenlieferungen an Kiew als moralisch vertretbar bezeichnet, wenn es darum geht, Opfer von Aggressionen bei der Selbstverteidigung zu unterstützen.
Solche Botschaften des Papstes erreichen in Europa immer weniger Menschen: In der Schweiz verlassen rund 30 000 Katholikinnen und Katholiken pro Jahr die Kirche, in Deutschland schnellten die Austritte von 220 000 im Jahr 2020 auf 360 000 im vergangenen Jahr hoch.
Alle Kirchen in Westeuropa verlieren Mitglieder, während sie in anderen Weltgegenden wachsen. Die Gründe sind vielfältig. Oft hängen sie mit den Positionen der Kirche zusammen, oder man hat schlicht den Bezug zur Kirche verloren. Auch hat die Angst vor Institutionen und Bindungen grundsätzlich zugenommen. Wenn Sie die Leute fragen würden, ob sie aus dem Staat austreten wollen, fände wohl auch das Zuspruch.
So schwer zu fassen sind die Austrittsgründe nicht. Viele Leute geben an, sie verliessen die katholische Kirche wegen der Missbrauchsskandale, einer überholten Sexualmoral oder der Stellung der Frau in der Kirche.
Bei den Missbrauchsfällen gibt es gar nichts zu beschönigen. Aber sehr oft sind die genannten Gründe die letzten Tropfen, die das Fass zum Überlaufen bringen, und die Menschen gehen. Die wahren Gründe sind individuell verschieden und liegen oft tiefer.
Der deutsche Kardinal Reinhard Marx sagte dazu: «Die Menschen glauben uns nicht mehr.»
Wenn Menschen die Kirche verlassen, dann ist das in der Tat ein Zeichen von Misstrauen. Die Aufgabe der Kirche ist es, dieses Vertrauen wieder zu gewinnen.
Und wie soll das gehen?
Indem sie die Übel beseitigt, etwa die Missbrauchsfälle. Hier ist die Kirche weltweit daran, diese Skandale aufzuarbeiten und weitere Missbräuche zu verhindern. Vor allem aber geht es darum, die positive Botschaft des christlichen Glaubens wieder ins Zentrum zu stellen und zu verkünden.
Was hat denn eine von alten Männern geleitete Kirche einer jungen Frau noch zu sagen?
Die christliche Botschaft ist universell und richtet sich an alle Menschen, unabhängig von Alter oder Geschlecht. Sie betont die unendliche Würde jedes einzelnen Menschen. Deshalb ist beispielsweise der Kampf gegen Diskriminierung, gegen Rassismus und für eine menschliche Flüchtlingspolitik urchristlich. Oft geschieht dieser Einsatz für die Armen und Verfolgten im Verborgenen und generiert kaum Schlagzeilen.
Die caritative Tätigkeit ist unbestritten. Dennoch treten die Menschen massenweise aus. Ist der moderne Mensch einfach weniger religiös?
Meiner Ansicht nach ist der Mensch unheilbar religiös. Es stellen sich immer wieder dieselben Grundfragen, die Immanuel Kant so formuliert hat: Wer bin ich? Was darf ich hoffen? Wohin gehe ich? Das gilt auch für den modernen Menschen, der sich allerdings weniger verbunden fühlt mit Institutionen und Gemeinschaften. Amerikanische Religionssoziologen sprechen in diesem Zusammenhang von einer «unbekirchten» Religiosität: Jeder sucht seinen eigenen Weg. Ich bin jedoch überzeugt, dass die Kirche Zukunft hat. In welcher Sozialform das sein wird, ist noch nicht ganz deutlich geworden.
Die katholische Kirche verändert sich, gleichzeitig tut sie sich mit Reformen sehr schwer. Ist diese 2000 Jahre alte Institution über-haupt reformierbar?
Die Frage ist, was reformierbar heisst. Eine echte Reform bedeutet, sich auf die Quellen des christlichen Glaubens zurückzubesinnen und diese in die heutige Zeit hinein neu zu übersetzen. So hat die letzte grosse Reform, das Zweite Vatikanische Konzil, nicht eine neue Kirche hervorgebracht, sondern diese erneuert. Das ist ein grundlegender Unterschied.
In Deutschland versuchen Katholikinnen und Katholiken derzeit die Kirche durch einen sogenannten synodalen Prozess zu erneuern. Rom kritisiert diesen Prozess jedoch, der Papst sprach gar von einem Irrweg.
Der Papst hat unter anderem kritisiert, dass nicht alle Gläubigen daran beteiligt sind. Denn es sind weitgehend Funktionäre, die jetzt die Diskussionen prägen.
Es sind vor allem engagierte Menschen, die der Kirche nicht den Rücken kehren, sondern diese modernisieren wollen.
Die Deutsche Bischofskonferenz und das Zentralkomitee der deutschen Katholiken haben bestimmt, wer an den Diskussionen mitmachen kann. Das dünkt mich ein schwieriger Weg. Ich habe zudem verschiedene Debatten via Livestream mitverfolgt und mich gefragt: Wie ist eine sinnvolle, wirklich synodale Diskussion möglich, wenn die Redezeit auf eine Minute begrenzt wird? Es gibt zu wenig Raum, um kontroverse Punkte wirklich zu diskutieren.
Sie kritisieren vor allem formale Aspekte. Brauchte ein solcher Prozess nicht vielmehr Unterstützung aus Rom? Wenn das Vorhaben scheitert, werden sich noch mehr Menschen als bisher von der Kirche abwenden.
Der Papst kritisiert ja nicht nur. Er hat gesagt: Ihr kreist zu stark um strukturelle Fragen. Geht stattdessen den Grundfragen nach: Was ist unsere Botschaft? Und wie können wir sie weitergeben? Darum sollte es gehen.
Eher zäh verlief auch die Reform der Kirchenbehörde. Seit 2013 hat man daran gearbeitet, nun ist sie abgeschlossen. Ist das einfach eine Reorganisation, oder steckt mehr dahinter?
Die Reform bringt grosse Änderungen bei der Organisation der Kurie. So ist das Dikasterium für Evangelisierung, also für die Verkündung des Glaubens, neu das wichtigste Amt. Damit setzt der Papst ein Zeichen: Er will eine Kirche, die hinaus zu den Menschen geht und nicht sich selbst genügt. Zudem ist neu, dass gewisse Ämter nicht mehr ausschliesslich von Bischöfen, sondern auch von Laien geführt werden können.
Wann wird denn die erste Frau Kurienchefin?
Das weiss ich nicht. Aber von Papst Franziskus sind Frauen mit wichtigen Aufgaben betraut worden: Im Generalsekretariat der Bischofssynode, in der Leitung der Museen und in verschiedenen Dikasterien hat der Papst Frauen in hohe Ämter berufen.
Aber zum Priesteramt werden die Frauen auch unter Franziskus nicht zugelassen.
Johannes Paul II. hat dies ausgeschlossen, seine Nachfolger Benedikt XVI. und Franziskus haben das bestätigt.
Sie selber haben sich als Theologieprofessor in Luzern Gedanken zur Weihe von Priesterinnen gemacht. Mussten Sie Ihre Meinung als Kardinal Ihrem Amt anpassen?
In der damaligen Phase wurde die Frage des Frauenpriestertums offen diskutiert. In einer solchen Situation haben Theologen die Aufgabe, Lösungen vorzuschlagen. Wenn aber das kirchliche Lehramt die Frage entschieden hat, so hat dies auch Konsequenzen für einen Theologen und erst recht für einen Kardinal.
Viel spekuliert wurde in letzter Zeit über einen Rücktritt des Papstes – unter anderem weil Franziskus gesagt hat: «Das Tor zum Rücktritt steht offen.» Sie sind einer seiner engsten Mitarbeiter. Steht der Rücktritt bevor?
Ich habe nicht den Eindruck. Es gibt zwar immer wieder Aussagen von ihm, die Spekulationen auslösen. Letzte Woche sagte er mit Blick auf den Weltjugendtag, es werde sicher ein Papst anwesend sein – Franziskus oder ein neuer Papst, zum Beispiel ein Johannes XXIV. Ich werte das eher als humorvolle Aussagen.
Ist der Papst ein humorvoller Mensch?
Ja, er verfügt über einen besonderen Humor. Als Pfarrer Gottfried Locher, der frühere Präsident des Rates der Evangelischen Kirche Schweiz, zu einer Audienz bei ihm war, übersetzte ich zwischen den beiden. Der Papst fragte mich anschliessend, wo ich denn so gut Deutsch gelernt habe.
Als Kardinal werden Sie den neuen Papst mitwählen. Franziskus hat die Mehrzahl der Kardinäle ernannt, die seinen Nachfolger wählen werden. Diese stammen immer seltener aus Europa. Was heisst das für die Kirche?
Inzwischen leben rund 80 Prozent der 1,3 Milliarden Katholikinnen und Katholiken nicht mehr in Europa. Die Zukunft der Kirche liegt weitgehend in Asien und Afrika. Daher ist es eine positive Entwicklung, wenn das Kardinalskollegium nicht mehr so eurozentrisch zusammengesetzt ist. Europa kann viel von anderen Kulturen lernen: Das afrikanische Christentum ist ein viel fröhlicheres Christentum als das europäische, bei dem ich oft das Gefühl habe, es sei für viele mehr eine Last als eine Freude.
Was bedeutet es für die Kirchen in Europa, wenn die wenigen Priester, die es noch gibt, zunehmend aus anderen Kontinenten stammen?
Ich bin dankbar, dass andere Ortskirchen uns diese Priester zur Verfügung stellen. Aber ich glaube nicht, dass dies die Lösung des grossen Problems ist. Denn die Vitalität jeder Ortskirche hängt davon ab, ob sie selbst für ihren Priesternachwuchs sorgen kann.
Wie ist eigentlich bei Ihnen der Wunsch entstanden, Priester zu werden?
Mich hat der Pfarrer in meiner Heimatpfarrei in Emmenbrücke stark beeindruckt. Schon früh wurde in mir der Wunsch wach: Das möchte ich auch werden.
Und Sie hatten nie Zweifel?
Nein, ich würde diesen Weg wieder gehen.
Kurt Koch
Vertrauter des Papstes
Kurt Koch, 72, ist derzeit der einzige Schweizer Kardinal. Seit 2010 leitet er den Päpstlichen Rat zur Förderung der Einheit der Christen. Er ist damit zuständig für das Verhältnis zu den reformierten und orthodoxen Kirchen. Kurt Koch stammt aus Emmenbrücke und studierte in München und Luzern Theologie. Zunächst war er Laientheologe in Sursee, liess sich dann zum Priester weihen und wirkte anschliessend als Theologieprofessor an der Universität Luzern. 1995 wurde Kurt Koch zum Bischof von Basel gewählt, bis ihn Papst Benedikt XVI. zum Kurienkardinal ernannte.