DANIEL FOPPA

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Der grösste Kunstraub der Geschichte

Das Jüdische Museum Berlin dokumentiert die Geschichte der von Nazis geraubten Kunstwerke. Und zeigt auf, wie schwer sich Deutschland bis heute mit dem Thema Raubkunst tut.
Tages-Anzeiger, 13. November 2008

Daniel Foppa, Berlin

Irgendjemand hat zum Pinsel gegriffen und die Widmung getilgt. «Herrn Silberstein zur Erinnerung» hiess es ursprünglich auf dem Gemälde, das den jüdischen Schneider Walther Silberstein zeigt. Das 1923 von Lovis Corinth geschaffene Bild wurde von den Nazis enteignet und tauchte nach dem Krieg im Besitz des Kunstsammlers Conrad Doebbeke auf. 1950 fragte das niedersächsische Landesmuseum Doebbeke an, ob er das Werk für eine Ausstellung zur Verfügung stelle. Der Kunstsammler sagte ab, weil er befürchtete, «dass irgendein Herr Silberstein es wiederhaben will». Er wolle «dieses Judenbild» vorerst «lieber in den Kisten lassen». Wenig später gab Doebbeke das Bild in den Kunsthandel – nicht ohne zuvor die Widmung entfernen zu lassen.

«Neues Blut» für alte Sammlungen

Gemäss Schätzungen haben die Nazis von jüdischen Besitzern rund 650 000 Kunstwerke geraubt. Nach dem Krieg konnte dieser grösste Kunstraub der Geschichte zu einem guten Teil rückgängig gemacht werden, indem die Alliierten die Güter den rechtmässigen Besitzern oder Nachfahren zurückgaben. Etwa 100 000 Objekte blieben aber verschwunden.

Eine Ausstellung im Jüdischen Museum Berlin zeichnet nun die Geschichte dieses europaweiten Raubzugs nach. Dargestellt wird der Weg von 15 Objekten, das Schicksal ihrer jüdischen Besitzer sowie die Rolle von Akteuren und Profiteuren des Raubes. Enteignungsurkunden dokumentieren, wie Gemälde, Bücher und Porzellane ihren Besitzern entrissen und staatlichen Museen oder Parteibonzen übergeben wurden. Angeordnet sind die Exponate auf Verpackungskisten – Sinnbilder für die verschlungenen und verdeckten Wege der geraubten Werke.

Es ist ein besonderes Verdienst der Ausstellung – der ersten überhaupt, die sich in Deutschland umfassend dem Thema widmet -, ohne Anklage die Unverfrorenheit und Selbstverständlichkeit zu dokumentieren, mit der Museen und Kunsthändler am Beutezug partizipierten. Als 1938 etwa die Sammlung des Wiener Bankdirektors Louis von Rothschild beschlagnahmt wurde, entbrannte unter österreichischen Museen ein Streit um die Zuteilung der Objekte. Das Kunsthistorische Museum Wien erbat 34 Gemälde, um «neues Blut den alten Sammlungen» zuzuführen. Die Wunschliste wurde jedoch zusammengestrichen, da Hitler die besten Stücke für sein geplantes «Führermuseum» beanspruchte. Schliesslich erhielt das Wiener Museum sieben hochkarätige Werke. Nach 1945 übergaben die Alliierten einen Grossteil der Sammlung dem österreichischen Staat. Dieser verweigerte Rothschild die Herausgabe und zwang ihn, einen bedeutenden Teil österreichischen Museen zu «schenken», um den Rest zurückzuerhalten. Erst 1999 erhielt die Familie auch die übrigen Stücke zurück.

Nahtlose Fortsetzung nach 1945

Das eigentlich Beunruhigende an der Berliner Schau ist die Erkenntnis, wie nahtlos der Kunstraub nach 1945 seine Fortsetzung fand. Viele der Räuber machten in Institutionen der Bundesrepublik als Museumsleiter, Kunsthändler oder Professoren Karriere. Nachkriegsdokumente belegen den oft erfolglosen Kampf der Besitzerfamilien um die Rückgabe ihres Eigentums – ein bis heute andauerndes Bemühen. 2006 sorgte zum Beispiel die so- genannte Causa Kirchner für Aufsehen. Damals gab das Land Berlin das Kirchner-Gemälde «Berliner Strassenszene» aus dem Brücke-Museum an die rechtmässigen Erben zurück. Ein paar Monate später wurde das Bild für fast 30 Millionen Euro in New York versteigert. Die Rückgabe des Gemäldes, das die Besitzerfamilie 1936 unter Drohungen den Nazis ausgehändigt hatte, führte zu monatelanger Polemik. Sie gipfelte in der Aussage «Man sagt Holocaust und meint Geld», mit der der Kunsthändler Bernd Schultz 2007 einen Artikel in der «Frankfurter Allgemeinen Zeitung» übertitelte.

In der Berliner Ausstellung kommt der Kölner Auktionar Henrik Hanstein ähnlich zu Wort: «Ich habe – leider – noch keinen Fall erlebt, in dem jemand etwas reklamierte und sagte: Ich möchte das Werk wiederhaben, weil es aus dem Besitz meiner Eltern, meiner Grosseltern stammt, und es behalten.» Hanstein ist ein Beispiel für jene Stimmen, die die Restitutionsdebatte bis heute mitprägen: Den Anspruchstellern wird vorgeworfen, von Habgier und skrupellosen Rechtsanwälten getrieben zu sein. Der Beobachter nimmt zur Kenntnis, wie wenig verbreitet dabei das Unrechtsbewusstsein ist, wie oft antisemitische Stereotype verwendet werden und wie begrenzt die Rückforderungsmöglichkeiten der Erben sind.

Rechtsgrundlage fehlt bis heute

Nach wie vor kennt Deutschland keine rechtsverbindliche Grundlage für die Rückgabe von Beutekunst. In der Folge der Washingtoner Raubkunst-Konferenz von 1998 erstellte die Bundesregierung zwar eine «Handreichung» zur Rückgabe von Raubkunst. Das Papier richtet sich jedoch bloss an öffentliche Museen und nicht an private Sammler. Zudem ist es höchstens moralisch bindend. Von sich aus begann deshalb kaum ein Museum zu forschen, ob sich in seinen Beständen Raubkunst befindet. Und wegen der Kulturhoheit der Bundesländer fehlte bis Anfang 2008 eine zentrale Stelle zur Provenienzforschung. «Wenn man sich ansieht, was in anderen Ländern in der Zwischenzeit passiert ist, ist das höchst blamabel für Deutschland», sagt der Kulturredaktor Stefan Koldehoff im Begleitband zur Ausstellung.

Wie unangebracht die Vorwürfe sind, bei den Rückforderungen gehe es nur um Geld, zeigt die Geschichte des erwähnten «Silberstein»-Bilds. Leo Hepner, der Enkel des Porträtierten, kaufte es 2003 kurzerhand vom damaligen Besitzer zurück. Er entschied sich für diesen Weg, um einen langwierigen Prozess zu vermeiden – Hepner wollte das Familienstück seinerMutter zum 99. Geburtstag schenken. In einer bewegenden Filmaufnahme schildert Hepner, wie er der hochbetagten Mutter das Porträt ihres Vaters überreichte und das Bild in allen Details beschrieb. Die ausgelöschte Widmung liess er restaurieren. Das Beispiel zeigt, dass es beim Thema Raubkunst um mehr geht als um materielle Werte. Der Berliner Schau gelingt es, Einzelschicksale sowie die historische Dimension des NS-Kunstraubs zu verbinden und in einer wegweisenden Ausstellung erfahrbar zu machen.

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