DANIEL FOPPA

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Der Gletschermarathon

Die Patrouille des Glaciers ist das härteste Gebirgsrennen der Welt. Daniel Foppa kämpfte sich über 4000 Höhenmeter von Zermatt nach Verbier und erlebte 13 Stunden des Leidens und von surrealer Schönheit.
Tages-Anzeiger, 27. April 2010

Daniel Foppa, Zermatt

Die drei Briten sehen verzweifelt aus. Es ist bald 22 Uhr, kurz vor dem Start zur 14. Patrouille des Glaciers. Edward hat sich mit seinem Team ein Jahr lang mit Ausdauerläufen in den britischen Midlands und Höhentrainings im Wallis vorbereitet. «Doch dies hier übersteigt die Vorstellungskraft», sagt er. Üblicherweise braucht man für die 53 Kilometer und 4000 Höhenmeter von Zermatt nach Verbier drei Tage – an der Patrouille wird die Strecke von Dreierteams am Stück zurückgelegt. Meine Teamkollegen Alex und Peter versuchen, die Briten zu beruhigen. Sie erreichen das Gegenteil. Zu sehr schlägt das Bevorstehende auch uns auf den Magen.

In der Romandie geniesst das Rennen Kultstatus. Tausende säumen die Strecke, biwakieren zum Teil auf den Gletschern. Am Start herrscht eine Stimmung wie bei einem City-Marathon. Touristen aus Fernost lichten uns ab – was nicht viel heissen will, denn die fotografieren in Zermatt sogar das Einkaufszentrum. Wir lächeln in die Kamera eines netten Japaners, der den Daumen nach oben streckt und immer wieder Richtung Matterhorn zeigt. Er hält uns wohl für vollkommen verrückt.

Schwerste Erfrierungen

Dann knallt der Startschuss, und das Feld setzt sich in Bewegung. Vorneweg die Eliteläufer im Rennanzug. An der Strecke sind Ärzte positioniert, die Order haben, Athleten mit Erfrierungserscheinungen aus dem Rennen zu nehmen. 1986 musste die Patrouille wegen eines Temperatursturzes abgebrochen werden. 200 Athleten erlitten zum Teil schwerste Erfrierungen.

Ski und Tourenschuhe sind beim Start auf dem Rucksack montiert, denn in Zermatt liegt Ende April kein Schnee mehr. Die Turnschuhe an den Füssen verleiten zum Joggen, das frenetische Publikum ebenso. Mit Mühe halten wir uns zurück, denn wer sich zu früh verausgabt, ist chancenlos. Einen Winter lang haben wir für diese Nacht trainiert, knapp 60 000 Trainings-Höhenmeter in den Beinen und ein Ziel vor Augen – zu dritt Verbier erreichen, irgendwo da hinten in pechschwarzer Nacht.

Über einen Bergpfad geht es Richtung Zmuttgletscher. Nach eineinhalb Stunden endlich Schnee, und wir steigen auf Ski um. Die Turnschuhe fliegen auf einen Haufen. Wer will, kann sie später in der Kaserne Sitten abholen. Die Armee denkt an alles. Uns allen sitzt derweil die Zeit im Nacken. Wer den Posten am Beginn des Gletschers nicht innerhalb dreier Stunden erreicht, muss aufgeben. Wir passieren ihn nach zweieinhalb Stunden und seilen uns an. Es gehört zu den Besonderheiten der Patrouille, dass man stundenlang am Seil aufsteigt und hinunterfährt. Dies soll verhindern, dass sich ein Unfall wie 1949 wiederholt. Damals verunglückte ein Team in einer Gletscherspalte tödlich. Die Patrouille wurde verboten und erlebte erst 1984 eine Neuauflage. Unterdessen ist das von der Armee organisierte Rennen auch für Zivilisten offen. Die eingesetzten Soldaten absolvieren ihren ordentlichen WK, wodurch keine Zusatzkosten entstehen. Die logistische Leistung, die hier vollbracht wird, ist beste Werbung für die Armee.

Viereinhalb Stunden und 2000 Höhenmeter nach dem Start stehen wir auf der 3650 Meter hohen Tête Blanche. Die Situation ist von surrealer Schönheit: Der Mond bescheint das Matterhorn, und über die Gletscher zieht die Lichterkette der Läufer. 4336 Athleten werden in zwei Nächten auf die Strecke gelassen, mehr liegt aus Sicherheitsgründen nicht drin. 2000 Läufer mussten abgewiesen werden.

Von der Tête Blanche fahren wir zum Col de Bertol ab. Wie die meisten Teams haben wir das Seil mit einem Gummizug präpariert, um es elastischer zu machen. Dennoch kommt es zu spektakulären Stürzen, wenn ruckartige Kurven der Vordermänner den Hintersten aus der Spur schleudern. Richtig übel wird es, wenn sich zwei Teams im Dunkeln ineinander verheddern und das Ganze in einem wüsten Seilknäuel endet.

Das Unerwartete tritt ein

Die Abfahrt gelingt uns ohne grössere Probleme. Doch plötzlich wird Alex langsamer. Irgendetwas stimmt nicht. «Guuut, es geht guuut», antwortet er mit sonderbarer Stimme. Mit Schrecken stellen wir schliesslich fest: Unserem stärksten Mann geht die Puste aus. Mit allem haben wir gerechnet, nur nicht damit. Alex hat zwar etwas schwerere Ski als wir, aber mit seiner im Himalaja gestärkten Kondition hat er das stets locker weggesteckt. Vielleicht ist es der Schnupfen, vielleicht sind wir zu lange mit dünnen Handschuhen aufgestiegen, und der Körper musste zu viel Energie in die Extremitäten pumpen, vielleicht ist es einfach nicht sein Tag: Jedenfalls erreichen wir mit einem schwer angeschlagenen Kollegen den Col de Bertol. Alex erhält Koffein-Gels, Tee und viel Zuspruch. Die Medikamente, die uns eine befreundete Ärztin für den Notfall besorgt hat, bleiben im Rucksack.

Nach einer kurzen Pause stechen wir nach Arolla runter. 1300 Höhenmeter ruppige Abfahrt in der Dunkelheit sind zu überstehen. Dosiertes Risiko heisst die Devise, um im fahlen Licht der Stirnlampen nicht in irgendwelche Felsbrocken zu knallen. Wir kommen heil unten an, wo uns ein Soldat die Beine massiert. Die Armee denkt wirklich an alles. Just in dem Moment erfolgt der Start der Läufer, die zur kleinen Tour ab Arolla starten – darunter Promis wie CVP-Präsident Christophe Darbellay und Swisscom-CEO Carsten Schloter.

Im folgende Aufstieg nehmen wir Alex ans Seil und ziehen ihn die 1000 Höhenmeter hinauf zum Col de Riedmatten. Beim Übergang binden wir die Ski auf den Rucksack und hangeln uns an Fixseilen über den vereisten Felsgrat. Hier spielen sich Szenen ab, die nicht nur Suva-Vertretern die Haare zu Berge stehen lassen. Vor uns verliert eine junge Frau die Nerven und will keinen Schritt mehr gehen – während von hinten ambitionierte Läufer nachdrängeln. Beim Abstieg kommt es immer wieder zu Stürzen, doch in der Regel fallen die Läufer im Menschenpulk nicht weit.

Der erschöpfte Alex meistert die Passage dank seiner Erfahrung problemlos und scheint sich wieder zu erholen. Wir fahren Richtung Lac de Dix ab, als vor uns ein Spanier in einen Hügel donnert. Es zerreisst ihm regelrecht den Skischuh. Die meisten Läufer verwenden enorm leichtes Material. Das bringt grosse Vorteile im Aufstieg, beeinträchtigt aber das Fahrverhalten. Unweit davon stürzt wenig später auch Marius Robyr, der frühere Rennleiter. Der Walliser wollte endlich mal selbst am Wettkampf teilnehmen – und landete mit gebrochenen Knochen im Spital.

Auf dem Weg nach La Barma werden wir vom Siegerteam überholt. Die drei Walliser Top-Athleten um Weltmeister Florent Troillet beenden das Rennen in unglaublichen 5:52 Stunden und pulverisieren den bisherigen Rekord.

Der verschüttete CEO

Inzwischen ist es acht Uhr, und die steigenden Temperaturen bereiten der Rennleitung Sorge. Denn auf die Läufer wartet das 200 Meter hohe Rosablanche-Couloir. Zwar hat die Armee Lawinen gesprengt, doch nun drohen Nassschneerutsche. Über 1200 Tritte steigen wir durch den fast senkrechten Schneehang. Viele Läufer sind der Erschöpfung nahe, werden gezogen oder gestossen. Zwei Stunden nachdem wir durch sind, gehen Lawinen auf die Strecke runter. Das Couloir wird geschlossen, 40 werden Teams mit dem Heli evakuiert. Weniger Glück hat Globetrotter-CEO André Lüthi, den nach der Rosa-blanche ein Schneebrett mitreisst. Lüthi wird bis zum Kopf verschüttet, kann aber unverletzt geborgen werden.

Uns erwarten am Ende des Couloirs Freunde mit Verpflegung. Wir sind überwältigt. Bei der folgenden Abfahrt müssen wir aufpassen, dass wir in der Euphorie niemanden überfahren. In einer Art alpinen Völkerwanderung sind Tausende hinaufgestiegen, haben Racletteöfen, Gasflaschen und literweise Weisswein mitgeschleppt. Das Wallis zelebriert die Patrouille als Volksfest. Hilfsbereite Zuschauer übernehmen für uns sogar das Montieren der Felle.

Wir lassen die Romands feiern und schleppen uns auf den Col de la Chaux. Oben sagt Peter, er möchte die letzte Abfahrt «zur Abwechslung mal vernünftig angehen». Eine gute Idee, finden wir angesichts der Stürze und zerschlagenen Gesichter, die wir gesehen haben. Doch nach ein paar Kehren ist Verbier zu sehen und der Vorsatz vergessen. Wir brettern ins Dorf und erreichen nach 13 Stunden und 20 Minuten das Ziel – langsamer zwar als erhofft, aber zu dritt.

Verbier ist in der Hand durstiger Briten, die Saisonende feiern. In einer Bar treffen wir Edward und seine Kumpels wieder. Nach über 9 Stunden haben sie vor Arolla aufgegeben. «Das war verdammt hart», sagt er. Trotzdem habe es sich gelohnt: «Die Patrouille rockt!» So was Schönes wie die Stimmung auf der Tête Blanche habe er noch nie gesehen. Alle drei wollen wiederkommen. In zwei Jahren. Zur Patrouille 2012.

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