Daniel Foppa
«Nie und nimmer kommst du so auf das Weisshorn.» Es ist morgens um zwei, und Bergführer Isidor Brantschen zerlegt eigenhändig die Ausrüstung des Pressefotografen. Die beiden Männer gehören zu einer Gruppe von 25 Personen, die sich in der Weisshornhütte für den Aufstieg bereitmachen. An diesem 19. August 2011 sind es genau 150 Jahre her, seit das 4506 Meter hohe Weisshorn erstmals bestiegen wurde. Die kleine Gemeinde Randa begeht das Jubiläum mit diversen Feierlichkeiten, deren Höhepunkt die Jubiläumsbesteigung sein soll. Vergeblich hat man sich jedoch bemüht, Prominente für den Anlass zu gewinnen, wie das offenbar zu einer Jubiläumsbesteigung gehört. «Alle Angefragten haben abgesagt. Der Respekt vor dem Weisshorn war zu gross», sagt Gemeindepräsident Leo Jörger.
Das Weisshorn ist einer der schwierigsten 4000er – und für viele Bergsteiger der schönste Berg der Alpen. «Das Matterhorn ist gewiss eleganter, erstaunlicher und einfach ein unerhörter Berg. Doch die vollendete Pyramide des Weisshorns strahlt eine harmonische Ruhe und majestätische Grösse aus wie sonst kaum ein Berg», heisst es im SAC-Führer. Tatsächlich entspricht das Weisshorn mit drei nahezu symmetrischen Graten dem Idealbild eines Berges. Durch seine Höhe und Masse weist es fast schon Himalaja-Dimensionen auf. Doch weil der Berg vom Tal aus nur schwer zu sehen ist, kennt man ihn kaum. Immerhin flimmert der Berg jeden Abend über den Bildschirm: Im Vorspann zur «Meteo»-Sendung sind die Walliser Alpen zu sehen. Dabei ist rechts neben dem Matterhorn das Weisshorn zu erkennen – als Bergmassiv, das alle anderen Gipfel überragt.
Dass das Weisshorn ein besonderer Berg ist, zeigt auch die Jubiläumsbesteigung. Im Gegensatz zur Feier «200 Jahre Erstbesteigung der Jungfrau», bei der Anfang August ein Sportausrüster ein Zeltlager auf dem Jungfraujoch organisierte und viel Prominenz auf den Gipfel geführt wurde, sieht es für die 25 Weisshorn-Besteiger weniger erfreulich aus. Vielen steckt noch der Hüttenaufstieg von 1500 Höhenmetern in den Knochen, und geschlafen haben während der vier Stunden Nachtruhe die wenigsten.
Zu Beginn des Aufstiegs führt der Kollege vom Bayerischen Rundfunk noch eifrig Interviews. Mitglieder des britischen Alpine Club erklären schwer atmend, es sei eine enorme Ehre, mit von der Partie zu sein. Allerdings mache ihnen die Höhe zu schaffen, seien sie doch vor wenigen Tagen noch auf Meereshöhe gewesen. Nach wenigen Stunden sind alle Mikrofone verstaut, und der Fotograf hat längst die Übersicht verloren, auf welche Rucksäcke seine Kamerabestandteile aufgeteilt worden sind.
Der Aufstieg führt über den Schaligletscher, durch Couloirs und über eine Rippe zum Frühstücksplatz auf 3914 Metern, wo der Ostgrat beginnt. Diesen Weg wählten auch die drei Erstbegeher, die am 19. August 1861 von ihrem Biwak nahe der heutigen Weisshornhütte aufgebrochen sind. Initiiert hatte die Erstbesteigung der irische Physiker John Tyndall. Er war einer jener Pioniere, die das goldene Zeitalter des Alpinismus prägten. Drei Jahre vor der Erstbesteigung des Matterhorns 1865 schaffte es Tyndall auf die Südwestschulter des Bergs. Diese heisst seither Pic Tyndall. Der Gipfelsieg am Matterhorn ging an den Konkurrenten Edward Whymper.
Zu Tode gestürzt
Am Weisshorn ist Tyndall mit den Führern Johann Joseph Benet aus Steinhaus VS und Ulrich Wenger aus Grindelwald unterwegs. Laut Tyndalls Bericht, nachzulesen in einer hervorragenden neuen Weisshorn-Monografie*, ist die Erstbegehung vor allem Benets Verdienst. Der Walliser führt die Seilschaft über den exponierten Ostgrat. «Ich folgte ihm wie ein Knabe, der auf einer horizontalen Stange geht, mit auswärts gekehrten Zehen», schreibt Tyndall. «Rechts und links waren die Abgründe grauenerregend.» Nach zehn Stunden stehen die drei Männer bei idealer Witterung auf dem Gipfel. «Nie vorher hatte ich einen Anblick erlebt, der mich so in tiefster Seele ergriffen hätte», hält Tyndall fest.
150 Jahre später setzt beim Frühstücksplatz Nieselregen ein. Die ersten Seilschaften kehren um. Unter ihnen ist Isidor Brantschen mit seinem Gast. Der 64-jährige Brantschen aus Randa hat das Weisshorn bereits 103-mal bestiegen. Doch nun soll es genug sein. «Der Schnee- und Gletscherrückgang macht den Anstieg zum Frühstücksplatz immer mühsamer», sagt er. Die weitersteigenden Seilschaften müssen bald darauf den Lochmatterturm überklettern. Hier stürzte am 17. August 1933 der legendäre St. Niklauser Bergführer Franz Lochmatter mit seinem Gast in die Tiefe. Lochmatter ist nicht der einzige berühmte Alpinist, der am Weisshorn sein Leben liess.
So verunglückte am 16. August 1888 der 19-jährige Münchner Georg Winkler beim Versuch, die Westwand alleine zu durchsteigen. Die sterblichen Überreste des besten Felskletterers der damaligen Zeit wurden erst 1956 gefunden und in Ayer im Val d’Anniviers beigesetzt. Am 18. August 1925 starb Eleonore Noll-Hasenclever in einer Lawine. Die populäre deutsche Alpinistin war eine Pionierin des Frauenbergsteigens. Mit zwei Begleitern wollte sie den Nordgrat besteigen. Die Seilschaft brach das Vorhaben wegen schlechten Wetters ab und versuchte, via Bishorn und Ostgratsattel die Weisshornhütte zu erreichen. Dabei gerieten sie in ein Schneebrett, das Noll-Hasenclever nicht überlebte.
«Messerbreiter Grat»
Bei der Jubiläumstour sind nach dem Lochmatterturm nur noch sechs Seilschaften unterwegs. Die Kletterei über zwei weitere Grattürme und einen markanten Gendarmen ist technisch nicht sehr schwierig, aber ausgesetzt. Der Niederschlag hat aufgehört, doch weil auf den Felsen Schnee liegt, müssen die Steigeisen früh angezogen werden.
In 4100 Meter Höhe geht der Ostgrat in einen bis zu 45 Grad steilen Firngrat über. Die hohen Temperaturen haben den Schnee aufgeweicht, doch eine gute Spur ermöglicht ein angenehmes Steigen. Am Nordgrat muss hingegen eine Seilschaft umkehren, die sich mit den Ostgratbesteigern am Gipfel hätte treffen wollen. Für den anspruchsvollen Nordgrat, einen der grossen Klassiker der Alpen, ist der Schnee zu weich.
Unterhalb des Gipfels ziehen zwei junge Bergführer aus dem Mattertal vorbei. Sie haben sich eine Speed-Besteigung vorgenommen. Gestartet sind sie in Randa auf 1400 Metern – und nach unglaublichen vier Stunden, zweiundzwanzig Minuten stehen sie auf dem Gipfel.
«Ein grosses Prisma von Granit oder Gneis bildete den Abschluss des Grates. Vor ihm lief ein messerbreiter Grat von weissem Schnee zu einem kleinen Punkt. Wir gingen am Kamm entlang, betraten den Punkt, und augenblicklich überflog unser Auge den ganzen Horizont», schreibt Tyndall. Am 19. August 2011 ist vom Horizont nichts zu sehen. Nur das schmiedeiserne Gipfelkreuz sticht aus dem Grau des Nebels hervor. Erst beim Abstieg bessert sich das Wetter. Und gibt den Blick frei auf das 3100 Meter tiefer liegende Randa
«Das Mattertal ist das tiefste Tal der Schweiz. Das spürt jeder, der in einem Zug vom Gipfel nach Randa absteigt», sagt Luzius Kuster, Hüttenwart der Weisshornhütte. Seine Unterkunft ist nur sieben Wochen im Jahr offen und bietet Platz für 30 Personen. Länger dauert die Saison nicht, und mehr Plätze sind nicht nötig. Im Sommer 2011 haben bisher bloss etwa 120 Personen auf dem Gipfel gestanden. «Das Weisshorn bleibt etwas Exklusives», sagt Kuster, der seinen Posten seit 45 Jahren ausübt. Auch das ist rekordverdächtig. Und passt zu diesem Berg, der jedes Mass sprengt.