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Das Rätsel um Lord Douglas

Die Erstbesteigung des Matterhorns vor 150 Jahren endete in einer Tragödie: Vier der sieben Bergsteiger stürzten zu Tode. Einer von ihnen konnte bis heute nicht geborgen werden. Jetzt wird die Suche wieder aufgenommen.
Tages-Anzeiger, 25. Juni 2015

Daniel Foppa

Er ist der grosse Abwesende bei der Matterhorn-Party, die dieses Jahr in Zermatt steigt: Lord Francis Douglas, Erstbesteiger des Matterhorns, abgestürzt vom Gipfeldach am 14. Juli 1865. Und seither spurlos verschwunden. Während die sterblichen Überreste seiner drei ebenfalls verunglückten Seilgefährten geborgen und bestattet wurden, liegt Lord Douglas immer noch irgendwo am Fuss der Nordwand. Doch nun wird die Suche wieder aufgenommen. Im Herbst startet eine Expedition von Glaziologen und Historikern, um Douglas’ Leiche doch noch zu finden. Der Fund würde nicht nur die Bestattung des aus adligem Haus stammenden Briten ermöglichen, sondern womöglich einen der bekanntesten Streitfälle der Alpingeschichte beenden: Was genau geschah an jenem Nachmittag kurz unterhalb des Matterhorn-Gipfels, als vier der sieben Erstbesteiger zu Tode stürzten?

Bis heute hält sich hartnäckig das abenteuerliche Gerücht, der Zermatter Bergführer Peter Taugwalder Vater habe das dünne Seil durchschnitten, das ihn mit seinen fallenden Bergkameraden verband – um nicht auch in die Tiefe gerissen zu werden. Die eine Seilhälfte ist im Matterhorn-Museum in Zermatt zu sehen. Und ihr Ende zeigt klar, dass sie mit einem Messer durchtrennt wurde. Da aber nach dem Unglück mehrfach Teile des Seils weggeschnitten wurden, kann es keinen Aufschluss mehr liefern, was genau vorgefallen war. Klarheit geben könnte hingegen das Seil, das immer noch an Lord Douglas’ Überresten angebunden sein muss.

Verwandter von Queen Victoria

Der Engländer Lord Francis Douglas ist 19-jährig und auf einer ausgedehnten Alpenreise, als er im Sommer 1865 auf der Südseite des Matterhorns auf den britischen Alpinpionier Edward Whymper trifft. Die beiden schliessen sich zusammen, um das Matterhorn zu besteigen. Whymper ist auf das Geld des Verwandten von Queen Victoria angewiesen, um Peter Taugwalder und dessen gleichnamigen Sohn als Bergführer zu bezahlen. In Zermatt stossen die vier auf die beiden Engländer Charles Hudson und Douglas Hadow sowie deren Führer ­Michel Croz aus Chamonix. Auch sie wollen aufs Matterhorn. Man beschliesst, als Siebnergruppe loszugehen.

Die Erstbegehung glückt, doch beim Abstieg rutscht der unerfahrene Hadow aus. Croz kann ihn nicht halten und stürzt ebenso wie Hudson und Douglas in die Tiefe. Zwischen Douglas und ­Peter Taugwalder Vater reisst das Seil. «Wohl eine halbe Stunde lang blieben wir an Ort und Stelle, ohne einen einzigen Schritt zu tun», beschreibt Whymper später die Erschütterung der Überlebenden. Die drei Männer schaffen es nach Zermatt. Am nächsten Tag steigt Whymper mit einer Bergungskolonne zum Fuss der Nordwand auf, wo sie die Leichen von Croz, Hadow und Hudson finden – immer noch verbunden durch das Seil. Von Lord Douglas fehlt hingegen jede Spur. Die drei Toten werden zunächst vor Ort bestattet und später nach Zermatt übergeführt.

Dass Douglas’ Leiche unauffindbar ist, gibt in Zermatt und in England zu reden. So verbreitet sich das Gerücht, der mittellose Whymper habe Douglas’ Leiche gefunden und sie in einer Gletscherspalte verschwinden lassen – nachdem er dem Toten die Brieftasche abgenommen hatte. Daraufhin wird die Suche nach Douglas intensiviert. «Es werden neue Versuche gemacht, um den Leichnam von Lord Douglas aufzufinden», schreibt die NZZ in ihrer Ausgabe vom 3. August 1865. Die ohne weitere Angaben in der Rubrik «Wallis» veröffentlichte Notiz zeigt, wie gross das öffentliche Interesse am Unglück damals war.

Als der irische Alpinist John Tyndall, der Erstbesteiger des Weisshorns, vom Unglück hört, eilt er nach Zermatt. Er will sich vom Gipfel mit einem 900 Meter langen Seil in die Nordwand abseilen, um nach Douglas zu suchen. Doch der Zermatter Bürgermeister untersagt es ihm mit der Begründung, es seien bereits ­genug Engländer am Matterhorn ge­storben. Tyndalls Vermutung, der verschwundene Douglas sei in der Nordwand hängen geblieben, ist indes nicht ohne Berechtigung. So berichtet 1867 der britische Alpinist William Leighton Jordan, nach dem die «Jordan-Strickleiter» am Liongrat benannt ist, er habe menschliche Überreste in der Nordwand gesichtet. Auch der Berner Alpinjournalist Daniel Anker, der zum Jubiläumsjahr eine Monografie zum Matterhorn verfasst hat, erachtet es als möglich, dass Douglas gar nie bis auf den Gletscher gestürzt ist. Wahrscheinlicher ist für ihn jedoch, dass der Brite in einen Bergschrund auf dem Matterhorngletscher stürzte.

Mit Dummies Unfall nachstellen

Deshalb wird nun ausgehend vom Wandfuss nach Douglas geforscht: «Ziel ist es, endlich Gewissheit zu haben, wie sich der Unfall der Erstbegeher abgespielt hat. Dazu müssen wir das Seil finden, an dem Lord Douglas festgebunden war», sagt der Zermatter Tourismusdirektor Daniel Luggen. Zudem sei es ein Anliegen, Lord Douglas – immerhin verwandt mit dem britischen Königshaus – nach so vielen Jahren würdig zu bestatten. Zu diesem Zweck soll im Herbst am Ende des Matterhorngletschers nach allfälligen Überresten gesucht werden.

«Zunächst werden wir noch mal alle vorhandenen Daten auswerten», sagt Luggen und meint damit die Augenzeugenberichte, die Untersuchungen der Behörden und die zahlreichen Publikationen zum Thema. Daraufhin möchte Luggen den Absturz von der vermuteten Absturzstelle aus – über die seit neustem ebenfalls wieder spekuliert wird – mit Dummies nachstellen. Dies soll aufzeigen, wohin die verunglückten vier Erstbegeher ungefähr gestürzt sind. «In Zusammenarbeit mit Glaziologen werden wir berechnen, wohin der Gletscher von der Aufprallstelle aus die Überreste im Verlaufe der Jahre am ehesten hingetragen hat», sagt Luggen. In diesem ­Gebiet werde man dann, wenn der Gletscherstand am tiefsten ist, eine intensive Suchaktion starten.

«Forensische Glaziologie»

Guillaume Jouvet, Mathematiker an der ETH Zürich, hält es für durchaus möglich, dass nach 150 Jahren noch Überreste eines Bergsteigers in einem Gletscher gefunden werden können. Zusammen mit dem ETH-Glaziologen Martin Funk hat Jouvet ein Modell entwickelt, mit dem erstmals die zeitlich und räumlich variierenden Fliesseigenschaften eines Gletschers dargestellt werden können. In einer Art «forensischer Glaziologie» haben Jouvet und Funk 2014 das Rätsel um drei Leichen gelöst, die erst zwei Jahre zuvor am Grossen Aletschgletscher gefunden worden waren.

Die Wissenschaftler konnten mit ihrem Computermodell berechnen, dass die drei am 4. März 1926 Richtung Konkordiahütte aufgebrochenen Männer nördlich der Hollandiahütte erfroren sein mussten. Die Walliser Brüder waren zusammen mit einem bis heute nicht gefundenen vierten Alpinisten von einem Schneesturm überrascht worden und hatten die Orientierung verloren. Beim Matterhorn-Projekt sind die ETH-Wissenschaftler voraussichtlich jedoch nicht dabei. «Uns fehlen zu viele Angaben. Wir wüssten nicht, von welchem Ausgangspunkt wir unsere Berechnungen anstellen sollten», erklärt Guillaume Jouvet.

Grab des unbekannten Alpinisten

«Ich halte die Suche nach Lord Douglas für eine Suche nach der Nadel im Heuhaufen», sagt auch der Zermatter Bergführer Harry Lauber. Er ist der Ansicht, dass der Gletscher Douglas’ Überreste bereits nach 50 Jahren freigegeben haben muss und nichts mehr zu finden sei. Lauber hat schon zahlreiche Überreste von am Matterhorn abgestürzten Bergsteigern gefunden, weil er oft im Gebiet des Matterhorngletschers unterwegs ist. «Aufgrund der Ausrüstungsgegenstände müssen das Alpinisten aus den 1970er-Jahren gewesen sein», sagt Lauber. Die sterblichen Reste übergibt der Bergführer jeweils der Kantonspolizei, die teils mit DNA-Analysen versucht, die Identität der Verunglückten zu bestimmen. Auf Laubers Initiative hin wird diesen Sommer auf dem Bergsteigerfriedhof in Zermatt ein «Grab des unbekannten Bergsteigers» eingerichtet. Dort sollen Überreste von Alpinisten, deren Herkunft ungeklärt ist, beigesetzt werden. Von den bisher rund 500 am Matterhorn abgestürzten Bergsteigern sind 20 nie gefunden worden.

Tourismusdirektor Luggen weiss, dass die Suche nach Lord Douglas sehr schwierig werden wird. Das bringt ihn jedoch nicht von seinem Vorhaben ab. «Regelmässig werden neue Theorien zum Absturz herumgeboten. Wir wollen endlich Klarheit schaffen und Fakten statt Legenden vorlegen», sagt er. Motiviert haben ihn zudem die Funde von mittelalterlichen Waffen, die Archäologen kürzlich auf dem ehemaligen Schlachtfeld von Morgarten gemacht haben. «Auch dort dachte man, es sei viel zu lange her, als dass man noch etwas finden würde. Dann hat man systematisch gesucht – und ist tatsächlich fündig geworden», sagt Daniel Luggen. So erhofft er es sich auch im Fall von Douglas. Auf dass eines der grössten Rätsel der ­Alpingeschichte nach 150 Jahren gelöst werde. Und der junge Lord endlich seine Ruhe finde.

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