Staatstheater

Das grosse Staatstheater

Parlamente stehen für die politische Kultur eines Landes. Sie sehen aber seit Jahrhunderten gleich aus. Ein Architekt will das nun ändern – um die Demokratie zu stärken.
NZZ am Sonntag, 7. Mai 2023

Daniel Foppa

Dies sind keine guten Zeiten für die Demokratie. Laut dem kürzlich publizierten Bericht «Varieties of Democracy» der Universität Göteborg sind die Demokratiefortschritte der letzten 35 Jahre zunichtegemacht worden. Auch wenn Kritiker bemängeln, das Göteborger Projekt zeichne ein zu negatives Bild, stehen die schwedischen Forscherinnen und Forscher mit ihrem Befund nicht allein da. Laut verschiedenen Think-Tanks und Universitäten befindet sich die Demokratie weltweit auf dem Rückzug, während Autokratien auf dem Vormarsch sind. Und in vielen westlichen Demokratien werden Vertrauens- und Demokratiekrisen geortet.

Was kann man dagegen tun? «Bauen wir unsere Parlamente neu», sagt der niederländische Architekt David Mulder van der Vegt. Er hat zusammen mit seinem Architekturbüro XML die Parlamentsgebäude aller 193 Mitgliedstaaten der Uno analysiert und die Plenarsäle schematisch festgehalten. Sein Befund: «Die meisten Parlamentsgebäude stammen aus dem 19. Jahrhundert und sind bis heute unverändert geblieben.» Die Demokratie habe sich in diesen über hundert Jahren aber weiterentwickelt. «Das sollte sich auch in der Architektur widerspiegeln», findet Mulder van der Vegt. Neue Parlamente, so seine These, könnten die unter Druck geratene Demokratie stärken.

Autoritäre Klassenzimmer

Wie gross die Wechselwirkung zwischen Architektur und Politik tatsächlich ist, zeigen die Grundrisse der Parlamente. Denn die einzelnen Sitzordnungen haben nicht nur funktionale Gründe, sondern zeugen auch von verschiedenen Vorstellungen von Politik. «Die jeweilige Verfassung verdichtet sich im Plenarsaal», sagt der Kölner Staatsrechtler Christoph Schönberger, der zu parlamentarischen Sitzordnungen geforscht hat.

So ähneln die Parlamente in autoritären Staaten einem Klassenzimmer: Der Vorsitzende spricht frontal zu seinen Untergebenen. Diese Form findet man in Russland oder China – und auch in Brasilien, dessen Hauptstadt Brasilia 1960 auf dem Reissbrett vom Architekten Oscar Niemeyer entworfen wurde: einem bekennenden Kommunisten.

Die Mehrzahl der Parlamente auf der Welt kennt hingegen eine Sitzordnung, die an das römische oder griechische Amphitheater erinnert: ein Halbrund mit einem Pult für die Rednerinnen und Redner in der Mitte. Die Sitzordnung hat sich während der Französischen Revolution durchgesetzt. Die Idee dahinter: Im Vergleich zu früher sitzen alle Abgeordneten gleichberechtigt in einer zusammenhängenden Sitzordnung, das Parlament wird zum Symbol der gesellschaftlichen Einheit.

«Das Halbrund hat sich bewährt», sagt Philip Manow, Politikwissenschafter der Universität Bremen. Diese Sitzordnung biete eine ideale Kombination von Einheit und Differenz. «Das ist für das Funktionieren eines Parlaments entscheidend», erklärt er. So sitzen die Abgeordneten zusammen, sind aber

in einzelnen Fraktionen organisiert. Auch der Vorwurf, das Halbrund sei nichts anderes als ein Zuschauerraum und lade zum Polittheater ein, schmälert seine Beliebtheit nicht.

«Order, order, order!»

Zudem zeigt ein Blick nach London, wie eine andere Sitzordnung zu noch viel mehr Polittheater führen kann. So haben sich die Briten dafür entschieden, das aus dem Mittelalter stammende Rechteck als Sitzordnung beizubehalten. Dabei sitzen sich im Unterhaus Regierung und Opposition dicht gedrängt gegenüber, was den Schlagabtausch befördert. Es obliegt jeweils dem zwischen den Lagern platzierten Speaker, mit lautstarken «Order, order, order!»-Rufen dafür zu sorgen, dass die Debatte nicht vollends entgleist.

Nicht durchgesetzt hat sich derweil die kreisförmige Sitzordnung, weltweit sind nur elf nationale Parlamente im Kreis angeordnet. Für Aufsehen sorgte das 1992 neu gestaltete Bundeshaus in Bonn, in dem das Parlament in Kreisform tagte. Die Anordnung überzeugte nur schon aus funktionalen Gründen nicht: Weil weiterhin an einer Rednertribüne festgehalten wurde, sah man die Rednerinnen und Redner von gewissen Plätzen aus schlecht bis gar nicht. Als das Parlament 1999 nach Berlin umzog, wurde die Sitzordnung wieder aufgegeben. In Liechtenstein entschied man sich bei der Neugestaltung des Parlaments 2008 hingegen bewusst für eine Kreisform, und die 25 Abgeordneten sitzen wie bei König Artus’ Tafelrunde im Kreis zusammen.

Manow hält nichts von der Kreisform. «Das ist Politkitsch», sagt der Politikwissenschafter. Politisieren bedeute Auseinandersetzung und Mehrheitsentscheide, wofür es keinen runden Tisch brauche. Und auch Schönberger gibt zu bedenken, ein Kreis könne eine «verschworene Selbstbezüglichkeit der Beteiligten suggerieren», während sie doch Repräsentanten des Volkes seien.

«Verpasste Chancen»

Das neu gebaute Landtagsgebäude im liechtensteinischen Vaduz ist denn auch eine Ausnahme. Bei den meisten Parlamentsgebäuden entschied man sich in den letzten Jahrzehnten für die Auffrischung des Bestehenden.

In Österreich etwa wurde im Januar das aus dem 19. Jahrhundert stammende Parlamentsgebäude nach einer Generalüberholung wieder eröffnet. Vergeblich hatten Kritiker im Vorfeld dafür plädiert, einen Neubau zu wagen und das Gebäude mit dem opulenten Plenarsaal einer anderen Nutzung zuzuführen. Immerhin wurde ein neues Besucherzentrum eingerichtet, das den Abstand zwischen Bürgern und Politik verkleinern soll.

«Diese Renovationen sind verpasste Chancen», sagt der Architekt Mulder van der Vegt. Das dominierende Halbrund sei zur «hohlen Metapher» geworden und Ausdruck fehlender Innovation. Die Politik sei inzwischen viel komplexer, darauf müsse die Architektur reagieren. Mulder van der Vegt schlägt etwa flexiblere Sitzordnungen vor: «Wenn die politischen Positionen bezogen sind und es um den Wettstreit der Argumente geht, ergibt ein Rechteck wie im britischen Parlament Sinn. Befindet sich ein Parlament jedoch erst auf der Suche nach den guten Argumenten, kann ein Halbrund oder ein Kreis hilfreich sein.»

Zudem sei mehr Interaktion mit den Bürgerinnen und Bürgern wichtig. Mulder van der Vegt und sein Team haben für die Renovation des niederländischen Parlaments einen Vorschlag unterbreitet: eine Sitzordnung in Form eines gleichschenkligen Kreuzes, bei der das Publikum den Debatten aus nächster Nähe beiwohnen kann. Auf diese Weise bilden Bürgerinnen und Bürger zusammen mit den Abgeordneten eine Art Kreis: Politik wird gleichsam als Gemeinschaftswerk wahrgenommen.

Fehlende Innovationslust

Allerdings dürfte auch dieser Vorschlag nicht realisiert werden und die niederländischen Abgeordneten weiterhin im Halbrund politisieren. Bei der bestehenden Sitzordnung, dem Rechteck, bleiben wird es auch im Vereinigten Königreich, wo die dringend notwendige Renovation des Parlaments seit Jahren diskutiert und immer wieder verschoben wird.

Und in der Schweiz? Auch da ist von Innovation wenig zu spüren. So entschied sich der Zürcher Kantonsrat im letzten Jahr gegen einen Neubau des Kantonsparlaments. Stattdessen wird das alte Rathaus trotz engen Raumverhältnissen saniert (bei einem Brand müssten die Politikerinnen und Politiker heute schlimmstenfalls aus dem Fenster in die Limmat springen), und das Parlament tagt vorübergehend in der Bullingerkirche.

Auch bei der 2008 abgeschlossenen Renovation des Parlamentsgebäudes in Bern stand die Absicht im Vordergrund, möglichst nahe an den baulichen Urzustand von 1902 heranzukommen. Zu Debatten im Parlament führte der Umbau gleichwohl. Aufgeworfen wurden Fragen nach der technischen Ausstattung des Hauses, dem Verbot von Raucherzimmern – und zur Bestuhlung der neuen Cafeteria.

«Wir formen diese Gebäude, und diese Gebäude formen uns», hat Winston Churchill über das britische Parlament gesagt und dafür plädiert, das im Zweiten Weltkrieg beschädigte Gebäude ohne Abänderung wieder aufzubauen. Seither hat das praktisch jede Generation von Politikerinnen und Politikern auch so gesehen. Demokratiekrise hin oder her.

«Wir formen diese Gebäude, und diese Gebäude formen uns», sagte Winston Churchill einst über das britische Parlament.

Rechteck

Vor der Französischen Revolution war das Rechteck die dominierende Sitzordnung: vorne der Monarch, auf den
Seiten der Klerus und der Adel. Vor allem das britische Parlament wirkte damit stilbildend. Als es 1834 nach einem Brand neu aufgebaut werden musste, hielt man an der alten Sitzordnung fest. Im House of Commons sitzen sich heute keine Ständevertreter mehr gegenüber, sondern Regierung und Opposition, und der Monarch wurde durch den für Ordnung sorgenden Speaker abgelöst.

Hufeisen

Das Hufeisen ist eine Art Kompromiss, den vor allem Commonwealth-Staaten wie etwa Südafrika kennen: Es verbindet die althergebrachte britische Sitzordnung mit der dominant gewordenen Halbkreisform. In Ländern wie Australien oder Indien wird der Halbkreis durch einen Gang durchbrochen, wodurch die Anlehnung an das britische Vorbild deutlich wird.

Klassenzimmer

Das Klassenzimmer ist die vorherrschende Sitzordnung in nichtdemokratischen Ländern. Die Parlamentsmitglieder sitzen hintereinander, wie in Schulbänken, in langen, aufeinanderfolgenden Reihen. Die russische Staatsduma oder der Nationale Volkskongress Chinas tagen in solchen Plenarsälen. Vorne sitzt der Duma-Sprecher – ein treuer Gefolgsmann von Wladimir Putin – beziehungsweise das Zentralkomitee der Kommunistischen Partei Chinas.

Halbrund

Als die französische Nationalversammlung 1793 erstmals im umgebauten Tuilerien-Theater tagte, entschied sie sich für ein Halbrund als Sitzordnung mit zentraler Position für Rednerinnen und Redner. Die homogene Sitzordnung sollte die Einheit

und Gleichberechtigung der Abgeordneten ausdrücken. Der Halbkreis setzte sich international rasch durch: vom Capitol
in Washington (1824) über das Abgeordnetenhaus in Wien (1883) bis zum Reichstag in Berlin (1894). Weltweit kennt heute die Mehrzahl der Parlamente diese Sitzordnung, so auch die Schweiz.

Kreis

Der Kreis ist die jüngste parlamentarische Sitzordnung. Sie geht zwar auf das isländische Parlament des 10.#Jahrhunderts zurück (Althing), wurde aber erst in den 1980er Jahren wieder aufgegriffen. Damals entwarf der Architekt Günter Behnisch das neue Plenargebäude in Bonn mit einer kreisförmigen Sitzordnung. Sie konnte sich aber nicht durchsetzen.
Eine Ausnahme ist das architektonisch bemerkenswerte Landtagsgebäude im Fürstentum Liechtenstein, das 2008 eröffnet wurde.

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