Daniel Foppa
Die Tourenberichte in den Alpinismusforen sind eindeutig: «Gletscherbrücken halten nicht mehr lange», «viel Blankeis», «loses Gestein». Wer derzeit Hochtouren unternimmt, spürt die Auswirkungen des Klimawandels wie kaum jemand sonst. Gletscher, die man vor wenigen Jahren noch begangen hat, sind schlicht verschwunden. Stattdessen führen die Routen über Geröllfelder. Wo üblicherweise im Trittschnee aufgestiegen wurde, muss nun mit Eisschrauben gesichert werden – die Schneeauflage ist weg. Touren werden zunehmend in die Nachtzeit verlegt, um dem wärmebedingten Steinschlag auszuweichen. Das gelingt nicht immer, wie die Unfälle der letzten Tage zeigen. Allein am Biancograt am Piz Bernina sind in der letzten Woche vier Alpinisten in den Tod gestürzt.
Beim Schmelzen zusehen
Nun mag man einwenden, dass Hochtouren zu den Risikosportarten gehören und Alpinisten sich schon immer an veränderte Verhältnisse anpassen mussten. Das stimmt. Neu ist jedoch die Geschwindigkeit, mit der die Berge sich verändern: In diesen Tagen kann man den Gletschern beim Schmelzen zusehen. Der Läntagletscher am Rheinwaldhorn hat in den letzten beiden Jahren 787 Meter Länge verloren, der Untere Grindelwaldgletscher letztes Jahr 270 Meter. Oberhalb Laax wurde früher im Sommer auf dem Vorabgletscher Ski gefahren. Nun ist die Eisfläche auf einen kümmerlichen, mit Vlies bedeckten Rest geschrumpft. Am Titlis müssen wegen der Gletscherschmelze die Masten des Skilifts verstellt werden. «Es ist vergleichbar mit 2003», sagt der Marketingleiter zur «Luzerner Zeitung». Nur sei damals das Eis noch dicker gewesen.
Sechs der acht extremsten Schmelzjahre seit Beginn der Aufzeichnungen vor über hundert Jahren sind nach 2008 erfolgt. Der Schweizer Alpen-Club bezeichnet den letztjährigen Sommer als «weiteren Tiefschlag für die Gletscher». Weggeschmolzen sind 900 Millionen Kubikmeter Eis, was dem jährlichen Trinkwasserverbrauch der Schweiz entspricht. Der Sommer 2017 dürfte noch heftiger ausfallen.
Bisher wurden Landschaftsfotografien aus dem frühen 20. Jahrhundert verwendet, um die Ausmasse des seitherigen Gletscherschwunds zu belegen. Nun erzielt man denselben Effekt mit Bergbildern, die vor zehn oder fünfzehn Jahren gemacht wurden. Die Aufnahmen wirken wie Zeugen einer vergangenen Epoche.
Zunehmend geben die Gletscher verschollene Personen frei, die Jahrzehnte von Eis bedeckt waren. Die Weltpresse vermeldet es mit Lust am Makabren. Man fühlt sich an die Erzählung «Unverhofftes Wiedersehen» von Johann Peter Hebel erinnert: Im Bergwerk von Falun wird die konservierte Leiche eines Mannes gefunden, der vor 50 Jahren kurz vor seinem Hochzeitstag verschwunden war. Eine alte Frau kommt hinzu und erkennt ihren Bräutigam. Ähnliches spielte sich beim verunglückten Ehepaar Dumoulin oder dem deutschen Tourengänger ab, deren Körper kürzlich in den Walliser Alpen aus dem Eis aufgetaucht sind und die nun von Angehörigen bestattet werden konnten. Die Walliser Kantonspolizei führt eine Liste von 300 in den Bergen vermissten Personen. Manches dieser Schicksale dürfte sich in den nächsten Jahren klären.
Nicht mehr zu retten
Seit Jahrmillionen schmelzen Gletscher und stossen wieder vor, auch ohne menschliche Eingriffe. Die durch unsere Generation beschleunigte Erderwärmung hat die Eisschmelze in den letzten Jahrzehnten jedoch derart verstärkt, dass die Gletscher nicht mehr zu retten sind: Bis zum Jahr 2100 wird laut Angaben der ETH fast die gesamte Eisfläche in der Schweiz verschwunden sein. Die gletscherlosen Alpen werden nicht in ferner Zukunft Realität, sondern in einem Menschenleben. Kinder, die heute auf die Welt kommen, werden sie sehen. Und die Folgen für den Tourismus, den Wasserhaushalt, die Energiegewinnung und die Stabilität von Berghängen zu bewältigen haben.
Man sollte sich das Bild der eisfreien Schweizer Alpen in einer ruhigen Minute vorstellen. Um zu erfassen, wie beschämend unsere Hinterlassenschaft für die nächsten Generationen ist.