DANIEL FOPPA

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Am Tiefpunkt angelangt

Seit dem EWR-Nein hat das Verhältnis zwischen der Schweiz und der EU viele Hochs und Tiefs erlebt. Im Moment herrscht wieder Eiszeit. Und trotzdem kommt man sich an einem Ort ständig näher: bei der Übernahme von EU-Recht.
NZZ am Sonntag, 16. Oktober 2022

Daniel Foppa

Die Beziehung ist wechselhaft, und sie ist an einem Tiefpunkt angelangt: 30 Jahre nach dem Schweizer Nein zum Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) erscheint das Einvernehmen zwischen Bern und Brüssel schlechter als je zuvor.

Zwar sind auch nach dem Abbruch der Verhandlungen zum Rahmenabkommen alle bilateralen Verträge in Kraft. Der Handel mit der EU, unserer wichtigsten Wirtschaftspartnerin, läuft bis jetzt problemlos. Doch bestehende Abkommen werden nur noch aktualisiert, wenn es im Interesse der EU ist. Und der Abschluss von neuen Verträgen wie etwa einem Stromabkommen ist in weiter Ferne.

Zudem dürften Gegenmassnahmen aus Brüssel wie die verweigerte Börsenanerkennung oder die einschneidenden Beschränkungen bei der Forschungszusammenarbeit häufiger werden. Die Schweizer Chefunterhändlerin Livia Leu ist derweil erneut mit leeren Händen aus Brüssel zurückgekehrt. «Wir sind konstruktiv und lösungsorientiert unterwegs», sagte sie diese Woche nach einem Treffen mit EU-Vertretern. Wenn nichtssagende Floskeln ein Gradmesser für den Stand der Gespräche sind, steht es nicht eben gut um Letztere.

Doch trotz der neuen Eiszeit rücken die Schweiz und die EU in einem Bereich immer näher zusammen. Die vom früheren Staatssekretär Franz Blankart geprägte Formel: «Beitrittsfähig sein, um nicht beitreten zu müssen» bleibt eine Maxime der Europapolitik. Konkret geht es darum, mit dem sogenannt autonomen Nachvollzug möglichst viele Gesetze an EU-Recht anzugleichen. Der Bundesrat schrieb 1998 von einem «Europareflex» in der Gesetzgebung: Neue Regeln sind «im Allgemeinen eurokompatibel, ausnahmsweise nicht». Damit sollen vor allem Hindernisse für die Wirtschaft abgebaut werden.

Erstaunlicherweise ist das Ausmass der freiwilligen Rechtsübernahme kaum erforscht. «Es gibt keine Liste der Bundesgesetze, die auf EU-Recht basieren», erklärte der Bundesrat letztes Jahr. Laut dem Zürcher Europarechtler Matthias Oesch durchdringt EU-Recht Schweizer Recht inzwischen in seiner ganzen Breite und Tiefe. 40 bis 60 Prozent der neueren Bundesgesetze seien von EU-Recht beeinflusst. Diese fortlaufende Rechtsübernahme sei aus demokratischer Sicht problematisch, findet Oesch: «Die Schweiz hat die Rechtsetzung in durchaus relevanten Bereichen faktisch an die EU delegiert.» Daran dürfte sich trotz der getrübten Beziehung so schnell nichts ändern.

Die offenen Streitpunkte

Dynamische Rechtsübernahme

Es ist eine Hauptforderung der EU: Damit die Schweiz weiterhin sektoriell am EU-Binnenmarkt teilnehmen kann, muss sie in den entsprechenden Abkommen die Weiterentwicklung von EU-Recht ohne Verzögerung übernehmen. Dies ist auch im Sinne der Schweiz, wenn so Handelsbarrieren abgebaut werden. Bern fordert jedoch, dass die Übernahme nicht automatisch geschieht, sondern die hier üblichen Verfahren gelten. Dazu gehört auch, dass neues Recht dem fakultativen Referendum unterstellt wird. Übernimmt die Schweiz Teile des neuen EU-Rechts nicht, kann die EU «verhältnismässige Ausgleichsmassnahmen» ergreifen, wie es im Entwurf zum Rahmenabkommen hiess. Was das genau heisst, ist offen.
Lösungsaussichten: mittel

Streitbeilegung

Seit Jahren ist das Streitbeilegungsverfahren eine Knacknuss: Welches Gericht soll entscheiden, wenn sich die Schweiz und die EU bei der Auslegung der bilateralen Verträge uneins sind? Einig sind sich Bern und Brüssel, dass zunächst Gemischte Ausschüsse eine Lösung suchen sollen und ein paritätisch zusammengesetztes Schiedsgericht allfällige Ausgleichsmassnahmen prüft. Geht es beim Streit um die Auslegung von EU-Recht, soll nach dem Willen von Brüssel jedoch der Europäische Gerichtshof (EuGH) das letzte Wort haben. Bern akzeptiert grundsätzlich die Zuständigkeit des EuGH – wehrt sich aber dagegen, dass er allein abschliessend entscheiden kann.
Lösungsaussichten: mittel–klein

Unionsbürgerrichtlinie

Befürchtet wird eine Zuwanderung in die Sozialwerke. Mit der Richtlinie hätten EU-Bürger, die in der Schweiz ihre Stelle verlieren, Anspruch auf Sozialhilfe während sechs Monaten. Wer über ein Jahr hier arbeitete, hätte gar unbeschränkt Anspruch. Derzeit haben EU-Bürger, die weniger als ein Jahr hier berufstätig waren, keinen und jene, die über ein Jahr arbeiteten, beschränkten Anspruch. Zudem erhielten sie neu nach fünf Jahren Daueraufenthalt-Recht und ihre Ausschaffung würde erschwert. Das Thema ist so umstritten, dass man es beim Rahmenabkommen ausgeklammert hat. Vom Tisch ist die Richtlinie aber nicht: Für die EU ist sie eine Weiterentwicklung des Freizügigkeitsrechts, welche die Schweiz übernehmen muss.
Lösungsaussichten: klein

Lohnschutz

Der Streit um den Lohnschutz ist schuld, dass auch Gewerkschaften und Teile der Linken EU-kritisch geworden sind. Die Gewerkschaften wollen, dass die Schweiz weiterhin autonom über die flankierenden Massnahmen zum Lohnschutz entscheidet. Gesprächsbereiter zeigen sich die Arbeitnehmerverbände bei der Voranmeldefrist. So müssen EU-Firmen, die Arbeiter für Aufträge in die Schweiz senden, dies acht Tage im Vorfeld anmelden. Laut dem Verband Travailsuisse könnte man die Frist auf fünf Tage verkürzen. Die EU will eine noch kürzere Frist und in Streitfragen auch den Lohnschutz dem EU-Gerichtshof unterstellen. Das lehnen insbesondere die Gewerkschaften ab.
Lösungsaussichten: klein

Staatliche Beihilfen

Brüssel missfallen die staatlichen Beihilfen in der Schweiz, etwa Steuervergünstigungen für Firmenansiedlungen oder Staatsgarantien für Kantonalbanken. Solche Beihilfen verzerren laut Brüssel den Wettbewerb, weshalb sie in der EU grundsätzlich verboten sind. Allerdings kennt die EU zahlreiche Ausnahmen. Brüssel fordert Regeln, wie die Beihilfen überwacht und nötigenfalls beseitigt werden können. Bei den Verhandlungen zum Rahmenabkommen war man einer Lösung nahe. Nun will Brüssel aber, dass das Verbot staatlicher Beihilfen bei allen Abkommen gelten soll, während die Schweiz dies je nach Abkommen aushandeln will. Das stellt wieder neue Fragen.
Lösungsaussichten: mittel

Kohäsionsbeiträge

Dieser Punkt hat die besten Aussichten auf eine Lösung. Die EU sieht die Beiträge als Preis für die Teilnahme der Schweiz am EU-Binnenmarkt. Sie fordert darum regelmässige Zahlungen. Bern ist grundsätzlich bereit dazu. Am 1. Juli wurde das Memorandum of Understanding zum zweiten Kohäsionsbeitrag in der Höhe von 1,3 Milliarden Franken unterzeichnet. Verknüpft war damit die Schweizer Hoffnung, wieder zum Horizon-Forschungsprogramm zugelassen zu werden. Diese Hoffnung hat sich bisher nicht erfüllt. Wie gross und wie regelmässig künftige Schweizer Beiträge sein sollen, ist offen. Das hängt auch stark vom Verhandlungserfolg in den anderen Bereichen ab.
Lösungsaussichten: gross

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